Bei Kindern mit ADHS-Symptomatik ist die Gabe bestimmter Medikamente, die die Aktivität dämpfen, weit verbreitet. Das bekannteste dieser Medikamente ist Ritalin®. Ritalin® ist der Handelsname, also die Bezeichnung, unter der das Medikament im Handel erhältlich ist. Medizinisch bedeutsam ist der im Medikament enthaltene Wirkstoff; im Ritalin® ist der Wirkstoff das Methylphenidat . Methylphenidat gehört zur Gruppe der Amphetamine und wirkt ähnlich wie Koffein, Kokain oder Speed. Daher wird es teilweise auch als Aufputschmittel missbraucht, zum Beispiel von Studenten in Prüfungsphasen. Bei Kindern mit ADHS-Symptomatik wirkt es aufgrund des veränderten Hirnstoffwechsels jedoch beruhigend. Nach der Änderung der Arzneimittelrichtlinie zum 1.12.2010 dürfen solche Medikamente nicht mehr ohne Weiteres verschrieben werden. Bis dahin war der Wirkstoff faktisch ohne besondere Auflagen von jedem Arzt verschreibbar, und die Menge der verordneten Dosen stieg von 1997 bis 2006 um das Zehnfache. 3Seit Dezember 2010 muss die Diagnosestellung umfassender und gründlicher als vorher erfolgen, es dürfen nur noch Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verordnen, und die Therapie soll zur Überprüfung des Nutzens regelmäßig unterbrochen werden. Vor allem aber darf Methylphenidat erst dann eingesetzt werden, wenn eine nichtmedikamentöse Behandlung wie zum Beispiel eine Psychotherapie nicht erfolgreich war, und auch stets nur ergänzend zu anderen Therapieformen verschrieben werden, nicht mehr als alleinige Therapie.
Ein anderer seit einiger Zeit verordneter Wirkstoff ist das Atomoxetin (Handelsname z. B. Straterra®). Es wird primär bei der Behandlung von Depressionen eingesetzt und hat einen anderen Wirkmechanismus als Methylphenidat. Da es nicht wie dieses zu den Stimulanzien gehört und damit nicht unter die neu gefasste Arzneimittelrichtlinie fällt, bestehen die oben beschriebenen strengen Auflagen für die Verschreibung nicht.
Ein medikamentöser Wirkstoff wie zum Beispiel Methylphenidat kann vorteilhaft dadurch sein, dass überhaupt erst ein Zugang zum Kind möglich wird und eine Psychotherapie begonnen werden kann, was ohne das Medikament nicht ohne Weiteres möglich wäre. Das Problem bis zum Zeitpunkt der Änderung der Arzneimittelrichtlinie war, dass solche Medikamente oft ohne weitere Therapie verschrieben wurden. Jede Person mit medizinischer Approbation durfte ein Rezept ausstellen, das heißt Hausärzte, Orthopäden und alle anderen Ärzte. Daher bestand die Gefahr, dass zwar dasjenige Symptom beim Kind, das insbesondere für die Umwelt den meisten Leidensdruck erzeugte, beseitigt wurde, jedoch ohne dass eine weiter gehende Arbeit mit dem Kind und seiner Familie begonnen wurde. Wenn ein Wirkstoff funktioniert, sei es Methylphenidat, Atomoxetin oder ein beliebiger anderer, führt das zwar zum Verschwinden der Symptomatiken, was ja das Ziel ist. Damit reduziert sich auch der Leidensdruck im Umfeld des Kindes weitgehend. Infolgedessen sinkt bei vielen Klienten die Motivation, weitere Schritte zu unternehmen, stark ab. Wenn das Leben durch die Einnahme eines Medikamentes wieder normal funktioniert, besteht oft keine Bereitschaft mehr, etwas zu verändern. In diesem Fall wird jedoch das oftmals zugrunde liegende Beziehungsproblem auf die Kinder abgewälzt, denn sie müssen das Medikament einnehmen. Das entspricht nicht der ursprünglichen psychologischen und auch nicht der medizinischen Absicht.
In der Medizin besteht die Hauptabsicht der Medikation darin, zu stabilisieren. Antidepressiva sind ein gutes Beispiel dafür, sie können den Patienten nicht heilen, ihn aber von den drückenden Symptomen befreien, sodass ein Umgang mit der Depression möglich wird. Es gibt so gut wie keine Medikamente, die wirklich heilend wirken, im Prinzip wirken sie alle unterstützend. Sogar das Antibiotikum unterstützt im Grunde genommen lediglich das Immunsystem. Medikamente heilen nicht, aber sie unterstützen den Heilungsprozess. Dieser Heilungsprozess in dem Sinne, dass für den Menschen ein neues Gleichgewicht aufgebaut wird, muss auf anderem Wege vonstattengehen, und diesen Weg muss der Patient bzw. Klient selbst aktiv beschreiten.
Wirkstoffe wie Methylphenidat und Atomoxetin dämpfen nicht nur die ungewünschten Symptome, sondern auch oft das Gefühlsleben der Kinder. Damit geht auch ein Stück der Lebendigkeit verloren. Es wird für diese Kinder schwieriger, Wege zu einer wirklichen Lösung zu beschreiten, und es wird ihnen die Möglichkeit genommen, aus eigener Kraft erreichte Veränderungen zu erleben. Sie nehmen eine Pille, dann geht es ihnen besser – das wichtige Gefühl der Selbstwirksamkeit kann sich so nicht mehr entwickeln (vgl. Abschnitt 4.1.2, »Lernen durch Erfahrung«). Weiterhin wird bei einer medikamentösen Behandlung der konstruktive Anteil des Verhaltens der Kinder übersehen: Ihr Symptom ist auch ein Gestaltungsversuch. Es ist oft für die Kinder die einzige Möglichkeit, auf Einflüsse und Anforderungen der Umwelt zu reagieren und gleichzeitig die eigene Integrität zu wahren. Wenn das Kind erlebte Not nicht anders ausdrücken kann, wenn es keine andere Möglichkeit sieht, seine Grenzen deutlich zu machen, oder wenn es etwas ins System geben muss, weil alle anderen es nicht tun (wenn z. B. die Eltern ihre Aggressivität oder ihre Trauer unterdrücken und kaschieren), und vieles andere mehr, dann sind das Problemlöseversuche. Nur werden sie von der Umwelt nicht als solche erkannt und daher als falsch angesehen. Tatsächlich tun sie dem Kind meistens auch wirklich nicht gut, sodass aus doppeltem Grunde etwas zu unternehmen ist. Ziel dabei muss sein, nicht nur das Symptom zu beseitigen, sondern die Suche nach weiteren, anderen Problemlösestrategien zu ermöglichen und zu befördern.
Die gemeinsame Suche von Klient und Therapeut nach alternativen Möglichkeiten nicht nur des Verhaltens, sondern auch der persönlichen Reifung stellt unseres Erachtens das Fundament dar, auf dem die therapeutische Arbeit aufbaut. Der Therapeut weiß nicht von vornherein, was für den Klienten das Richtige oder am besten ist. Aber sie sehen sich gemeinsam an, was los ist, und gehen von dort aus weiter. Diese Haltung ist nicht in allen therapeutischen Ansätzen zu finden, sie verbreitet sich jedoch immer mehr und ist in der systemischen Therapie besonders ausgeprägt. Nicht umsonst ist die systemische Therapie von dem zuständigen wissenschaftlichen Gremium (dem Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie) im Dezember 2008 als wissenschaftlich anerkanntes Psychotherapieverfahren eingestuft und 2018 vom Gemeinsamen Bundesausschuss als viertes Richtlinienverfahren in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen worden – ein Status, den nur wenige Psychotherapieverfahren erreichen. Diese neueren, in unseren Augen guten Möglichkeiten der therapeutischen Arbeit möchten wir ein Stück weit auf das Feld der Lerntherapie übertragen und damit der lerntherapeutischen Arbeit neue Impulse geben.
1.3.2Anwendungsfelder der Lerntherapie
Eine lerntherapeutische Begleitung kann in verschiedenen Kontexten stattfinden. In ihnen gelten jeweils spezifische rechtliche Bedingungen, die unter anderem regeln, wer Kostenträger ist, das heißt, wer die Kosten der lerntherapeutischen Begleitung übernimmt. Grundsätzlich ist der Begriff »Lerntherapeut« nicht geschützt, im Prinzip darf also jeder diese Tätigkeit ausüben. Eine lerntherapeutische Begleitung muss im rechtlichen Sinne keinen besonderen Anforderungen genügen, und es ist auch keine bestimmte Berufsausbildung vorgeschrieben. Jedoch können die Kostenträger im Rahmen ihrer Zuständigkeit Mindestqualifikationen verlangen.
Die unterschiedlichen Kontexte mit ihren jeweiligen Merkmalen werden in Tabelle 2überblicksartig dargestellt und anschließend erläutert.
Ist der Leistungserbringer eine Einrichtung , dann arbeitet der Lerntherapeut im Auftrag einer Einrichtung und für diese Einrichtung, die meistens nicht nur lerntherapeutische, sondern auch andere Aufgaben hat. Er kann dort angestellt (das ist der Regelfall) oder als freiberuflicher Mitarbeiter tätig sein. Die letztendliche Verantwortung für die Durchführung der lerntherapeutischen Begleitung liegt bei der Einrichtung. Sie nimmt den Auftrag für die Begleitung entgegen und regelt die finanziellen Fragen. Der Lerntherapeut erhält den Auftrag für eine konkrete lerntherapeutische Begleitung und führt sie durch. Dafür wird er von der Einrichtung bezahlt. Die Einrichtung wählt ihre Mitarbeiter aus und legt dabei auch fest, welche Qualifikationen vorliegen müssen. Aus der Sicht des Lerntherapeuten initiiert die Einrichtung die lerntherapeutischen Begleitungen, er muss sich nicht selbst darum bemühen. Solche Einrichtungen können zum Beispiel Nachhilfeinstitute, Schulen mit sozialpädagogischer Nachmittags- oder Hausaufgabenbetreuung, Träger der Jugendhilfe und viele mehr sein.
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