1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 Sie können sich Präsenz wie einen von einer Quelle gespeisten Waldteich vorstellen – klar, still und rein. Weil wir so viel Zeit damit verbracht haben, uns in den Wäldern unserer Gedanken und Emotionen zu verirren, fällt es uns oft schwer, diesen Teich zu finden. Doch wenn wir uns immer und immer wieder hinsetzen und meditieren, wird uns der Weg durch den Wald allmählich vertrauter. Wir erkennen diese Lücke zwischen den Bäumen wieder, wir erinnern uns an diese Wurzel, über die wir schon so oft gestolpert sind, und selbst wenn wir uns im Dickicht verfangen haben, vertrauen wir darauf, dass wir unseren Weg finden werden.
Die regelmäßige Meditationspraxis erzeugt in unserem Geist neue Pfade, die uns heim zu der Klarheit, Offenheit und Leichtigkeit der Präsenz führen. Der Buddha hat viele Strategien gelehrt, diese Pfade zu kultivieren, unter denen die Praxis der Achtsamkeit jedoch eine zentrale Stellung einnimmt. Achtsamkeit ist der bewusste Prozess urteilsfreier Aufmerksamkeit für die sich von Augenblick zu Augenblick entfaltende Erfahrung. Wenn Sie sich in Sorgen um Ihren Kontostand verlieren, bemerkt die Achtsamkeit diese sorgenvollen Gedanken und das damit einhergehende Gefühl der Ängstlichkeit. Wenn Sie sich darin verlieren, auszuprobieren, was Sie einer anderen Person sagen könnten, bemerkt die Achtsamkeit diesen inneren Dialog und – je nachdem – Gefühle der Aufgeregtheit oder Angst. Ohne jeglichen Widerstand erkennt die Achtsamkeit das Kommen und Gehen aller Empfindungen und Gefühle und lässt sie zu. Die meisten tief eingeprägten Gedankenpfade unseres Geistes führen uns vom gegenwärtigen Moment weg. Indem wir unseren Geist bewusst auf das richten, was jetzt gerade passiert, löst die Achtsamkeit diese Konditionierungen auf und lässt uns zu einem frischen, unmittelbaren Empfinden von Lebendigkeit erwachen. So wie ein klarer See den Himmel spiegelt, lässt uns die Achtsamkeit die Wahrheit unserer Erfahrung erkennen.
Die von mir am meisten gelehrte buddhistische Art der Meditation heißt Vipassana , das bedeutet »klar erkennen«. Im Vipassana beginnt der Weg der Achtsamkeit mit Konzentration – einer einsgerichteten Fokussierung der Aufmerksamkeit. Es ist schwer, auf die gegenwärtige Erfahrung zu achten, wenn wir uns in einem ständigen Strom diskursiver Gedanken verlieren. Also sammeln und beruhigen wir den Geist zunächst, indem wir die Aufmerksamkeit auf einen sensorischen Anker richten. Das kann bedeuten, dem Atem zu folgen oder die Körperempfindungen zu scannen oder auf Geräusche zu achten oder immer wieder leise einen Satz zu wiederholen wie »Möge ich glücklich sein« oder »Möge ich friedvoll sein«. Dieser Anker kann dann mit etwas Übung zu einer zuverlässigen Heimat Ihrer Aufmerksamkeit werden. Wie ein guter Freund wird er Ihnen helfen, zu einem Gefühl innerer Ausgeglichenheit und allgemeinen Wohlbefindens zurückzukehren.
Der Psychiater und Autor Daniel Siegel hat eine nützliche Metapher dafür gefunden, wie wir während der Meditation ständig abschweifen. Stellen Sie sich Ihr Gewahrsein als ein großes Rad vor. An der Nabe des Rades ist die Präsenz, und von dieser Nabe erstrecken sich zahllose Speichen zum äußeren Reifen. Ihre Aufmerksamkeit ist darauf konditioniert, sich an den Speichen entlang von der Präsenz weg zum äußeren Reifen hin zu bewegen und sich ständig an neue Teile dieses Reifens anzuheften. Überlegungen zum Abendessen gehen in Erinnerungen an ein schwieriges Gespräch über, fließen weiter in Selbstbezichtigungen, ein Lied im Radio, die Rückenschmerzen, ein Gefühl der Angst. Oder Ihre Aufmerksamkeit verliert sich in zwanghaftem Denken, welches endlos um Geschichten und Gefühle darüber kreist, was alles verkehrt ist. Wenn Sie nicht mit der Nabe verbunden sind, wenn Ihre Aufmerksamkeit an den Reifen geheftet ist, sind Sie von Ihrer Ganzheit abgeschnitten und leben in Trance.
Eine vorgewählte Heimatstation, ein eingeübter Anker wie der Atem ermöglicht es Ihnen, zu bemerken, wenn Sie nicht präsent sind, und leichter den Weg zurück zur Nabe zu finden. Ich nenne diesen Teil der Praxis »Zurückkommen«. Wenn Sie wieder an der Nabe sind, hilft Ihnen der Anker, den Geist zu beruhigen. Unabhängig davon, wie oft Ihre Aufmerksamkeit zu irgendwelchen Fantasien oder Erinnerungen auf dem Reifen abschweift − Sie kehren immer wieder sanft zu der Nabe zurück und verwurzeln sich wieder in der Präsenz.
Je mehr Ihre Aufmerksamkeit zur Ruhe kommt, desto mehr werden Sie spüren, wie sich die Grenzen der Nabe aufweichen und öffnen. Diese Phase der Praxis nenne ich »Hier sein«. Sie sind weiterhin mit Ihrem Anker verbunden, können jedoch gleichzeitig die sich ständig verändernden Erfahrungen auf dem Reifen zulassen – das Geräusch des bellenden Hundes, den Schmerz in Ihrem Knie, den Gedanken darüber, wie lange Sie jetzt noch meditieren wollen. Statt sich an diese Erfahrungen anzuheften oder sie wegzudrängen, lassen Sie sie frei kommen und gehen. Natürlich wird sich der Geist trotzdem manchmal auf dem Reifen verlieren, und dann bemerken Sie das und kehren sanft zur Nabe zurück. Es ist natürlich, dass die Praxis ständig zwischen »Zurückkommen« und »Hier sein« hin und her fließt.
Je mehr Sie sich in der wachen Stille im Zentrum des Rades aufhalten und alles, was geschieht, mit Achtsamkeit aufnehmen, desto runder, wärmer und heller wird die Nabe der Präsenz. In den Momenten, wo es keine Kontrolle der Erfahrung mehr gibt – wenn die Achtsamkeit frei von allem Bemühen ist –, sind Sie ganz in die Präsenz eingetaucht. Nabe, Speichen und Reifen schweben alle in lichtem, offenem Gewahrsein.
~ Sich erinnern, worauf es ankommt ~
Heutzutage werden so viele verschiedene Arten von Meditation und Kontemplation angeboten, dass sich so mancher sorgt, ob er auch die »richtige« gewählt hat. Doch für das spirituelle Erwachen ist die Aufrichtigkeit Ihrer Absicht viel entscheidender als die genaue Form Ihrer Praxis. Wenn wir mit dem verbunden sind, was uns am meisten am Herzen liegt, sind wir auch ernsthaft bei der Sache. In den buddhistischen Lehren wird die bewusste Anerkennung unseres tiefsten Herzensanliegens »weises Streben« genannt. Vielleicht geht es für Sie um spirituelle Verwirklichung, um umfassenderes Lieben, um das Erkennen der Wahrheit oder um Frieden. Was auch immer es ist, das Bewusstsein dessen, was Ihnen wichtig ist, wird Sie in Ihrer Praxis energetisieren und leiten. Wie der Zen-Meister Suzuki Roshi lehrte: »Das Wichtigste ist, sich an das Wichtigste zu erinnern.«
Es ist hilfreich, Ihre Meditation mit einer Besinnung über Ihr Herzensanliegen zu beginnen. Manche Meditierende vergegenwärtigen sich ein allumfassendes Ziel ihrer Meditation, während andere ihren Fokus auf eine bestimmte Absicht für die Meditation an diesem Tag richten. Sie können sich zum Beispiel mit Ihrem Streben nach allumfassender Liebe verbinden oder sich entscheiden, jegliche schwierigen Gefühle, die während der Meditation auftauchen, liebevoll anzunehmen. Sie können nach Wahrheit streben – tatsächlich zu erkennen, was vor sich geht und was wirklich ist –, oder Sie richten sich auf die Absicht aus, Gedanken zu erkennen und loszulassen. Wenn Sie anfangen, Ihr Herz zu befragen, was ihm wichtig ist, befinden Sie sich bereits auf dem Weg zur Präsenz.
~ Eine weise Einstellung kultivieren ~
Falls Sie bereits meditieren, können Sie sich einen Moment Zeit nehmen, um über Ihre allgemeine Haltung zu Ihrer Praxis nachzudenken. Meinen Sie, Sie sollten mehr üben und bessere Ergebnisse erzielen? Scheint es Ihnen zu schwer und Sie haben sich damit abgefunden, es nicht gut zu machen? Nehmen Sie sich zwar die Zeit, gehen die Sache dann aber nur halbherzig an? Freuen Sie sich auf die Meditation? Sind Sie neugierig, was geschehen wird? Sind Sie in Bezug auf Ihre Fortschritte entspannt?
Eine gesunde Einstellung zur Präsenz ist, sie wichtig zu nehmen, ohne zu beurteilen, was sich zeigt. Stattdessen betrachten wir das, was geschieht, mit interessierter, entspannter, freundlicher Aufmerksamkeit. Wenn die Meditation Teil eines Selbstverbesserungsprojekts ist, kann das die Praxis unterminieren. Die meisten Menschen haben eine innere Vorstellung von einer meditativen Erfahrung, die sie »gut« finden (ruhig, offen, klar, liebevoll und so weiter), und verurteilen sich dafür, wenn ihre Gedanken abschweifen oder schwierige Gefühle auftauchen. Doch tatsächlich gibt es keine »richtige« Meditation, und das Bemühen danach nährt nur die Idee eines unvollkommenen, sich ständig abarbeitenden Selbst. Eine Praxis, die sich mit halbherzigen Bemühungen zufriedengibt, stärkt hingegen das Empfinden eines unbeteiligten, getrennten Selbst.
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