Jaropolk Sadoroschnyj fiel in Ohnmacht, als er das Zimmer betrat, seine Frau ebenfalls, als sie ihn mit ein paar Klapsen wecken wollte. Sie drehte sich zu ihrer Tochter und sah, dass das Mädchen sich mit der letzten verzweifelten Bewegung an ihre Lieblingspuppe geklammert hatte, die ihr Fedora zum letzten Geburtstag genäht hatte. Fedora schnappte nach Luft und fiel neben Mann und Kind zu Boden.
Als die beiden wieder zu sich kamen, hatten sie sich gefasst. Sie riefen die Polizei und den Notarzt. Die kamen, schüttelten die Köpfe, ließen die Schultern hängen und waren außerstande, irgendetwas zu erklären oder zumindest nachzuvollziehen, was passiert war. Die Befragung der Nachbarn ergab nichts: Niemand hatte die kleine Anna schreien gehört, einige Nachbarn hatten die Sadoroschnyjs weggehen und wiederkommen sehen. Doch während ihrer Abwesenheit waren keine Fremden im Haus gewesen. Die Ermittler konnten nichts ausrichten. Sie leiteten ein Ermittlungsverfahren ein und sprachen den Eltern ihre Anteilnahme aus, mehr konnten sie nicht tun. Als die Sadoroschnyjs den kleinen Sarg zum Friedhof gebracht und ihre Tochter beerdigt hatten, packten sie die Koffer und fuhren auf eine linguistische Konferenz nach Leningrad, als wäre nichts gewesen. Weder untereinander noch gegenüber anderen verloren sie über Anna je wieder ein Wort. Zu keiner Zeit. Sie gaben lediglich noch einen Grabstein in Auftrag und sorgten dafür, dass die Inschrift fehlerfrei war. Mehr nicht. Schnell war das Grab von Gras überwuchert, und jetzt, dreißig Jahre später, würden es die Sadoroschnyjs nicht einmal mehr wiederfinden.
Sie dachten nie wieder an ein Kind, aber Fedora wurde mit gut 40 noch einmal schwanger und danach noch ein weiteres Mal. Und plötzlich waren die Sadoroschnyjs, international renommierte Wissenschaftler, im reiferen Alter wieder junge Eltern.
***
Für Kyrill mit seinem Namen war es kein Problem rauszugehen und mit anderen Kindern zu spielen – also tat er es auch. Method hingegen hatte die Nase voll von dem ewigen Frotzeln der ganzen Rasselbande und war lieber allein. Er mochte das. Vor allem im Sommer.
Die Außerirdischen waren wochenweise auf Foren, Konferenzen und Kolloquien unterwegs, Kyrill machte sich buchstäblich früh um sechs aus dem Staub, ging angeln, wandern oder Fußball spielen. Method blieb allein zu Hause. Er las, sah fern und strich durch die Wohnung, in der Gluthitze ging er nicht nach draußen, wenn er nicht musste. Er konnte über seine Zeit frei verfügen, und das gefiel ihm richtig gut.
Diesen Sommer hatte er besonders herbeigesehnt. Irgendwann im April hatte er einem alten Säufer auf dem Markt am Bahnhof ein seltsames Buch abgekauft. Es ging um Yoga, Meditation und die Erkundung des eigenen Ichs und der Umwelt. Obwohl Method Sadoroschnyj gerade erst zehn geworden war, schaffte er das ganze Buch zu lesen, auch wenn er es nicht bis ins Letzte verstand. ‚Ich muss ein bisschen üben‘, beschloss Method und erging sich im Warten auf den Sommer.
Das Meditieren fiel ihm leicht. Den ganzen Juni über waren die Eltern irgendwo in der Slowakei oder in Slowenien, Kyrill ließ sich zu Hause so gut wie gar nicht blicken, also hatte Method genügend Zeit, um sich zu konzentrieren – und auch genügend Stille.
Es war nicht vollkommen still. Erst als Method alles abgeschaltet hatte und sich konzentrierte, nahm er fremde Geräusche wahr: Stöhnen und Seufzen, Klappern, Quietschen und Trappeln. Zuerst erschrak er und lauschte angespannt, aber er hatte sich schnell daran gewöhnt. Manchmal unterhielt er sich sogar mit der Stimme, die offenbar von unten aus dem Boden oder aus der Wand kam. Anders als seine Eltern und sein Bruder interessierte sie sich für das, was Method dachte. Allem Anschein nach hatte er einen Freund gefunden.
Method stand auf, wusch sich, machte sich einen Tee, trank zwei ganze Tassen und aß Gebäck dazu. Er schaute auf den morgendlichen Hof hinunter. Es war kurz nach sieben, sein Bruder war schon weg, er hatte fast die ganze Salami und einen Beutel Äpfel mitgenommen. Method überlegte, was er sich zu Mittag kochen sollte, und beschloss, ein bisschen zu meditieren.
Er ging ins größere der beiden Zimmer, setzte sich vor den riesigen, mannshohen Spiegel, schlug die Beine unter und schloss die Augen. Er stellte sich das warme Meer vor und sah sich, Method Sadoroschnyj, am Strand sitzen. Leichtigkeit strömte in seinen Körper. In die Lungen, die Gliedmaßen, den Kopf. Dem Jungen wurde warm, er spürte den Sand zwischen den Fingern, körnig und angenehm. Er fühlte sich ganz leicht, und es grenzte für ihn an ein Wunder, dass er sich noch am Boden hielt. In seinem Kopf kam ein gleichmäßiges, angenehmes Brummen auf, unterschwellige Fluggeräusche. Method sah sich als Schmetterling im Sand, er tippte auf den Boden, als wollte er sich abstoßen – und spürte im selben Moment, wie sein Körper abhob.
Method freute sich und hatte zugleich Angst. Die Angst kappte ihm die Flügel, saugte ihm die Leichtigkeit aus dem Körper, und der Junge fühlte wieder den harten Boden unter sich.
Er öffnete die Augen. Im Zimmer war es dunkler geworden, als zöge ein Gewitter herauf. Method schaffte es nicht mehr, sich darüber zu wundern, dass es schon dunkel wurde und die Sonne unterging, als er plötzlich auf dem Couchtisch vor dem Spiegel etwas liegen sah. Auf den Illustrierten, neben der leeren Teetasse wackelte ein Kopf hin und her. Mit kurzen blonden Haaren, tiefen Augenringen und einer zerbrochenen Brille auf der Nase. Method erstarrte und wich zurück, bis er mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. Die Wand war hart, kalt und seltsam spitz, als hätte sie Stacheln. Vor Schreck kniff Method die Augen zu, aber das Grauen verschwand nicht – der Kopf lachte schauerlich und sog die Luft mit einem merkwürdigen Geräusch ein, das wie die schrillen Schreie einer Krähe oder das Kratzen eines Messers an einem Eisentor klang. Auf das teuflische Gelächter hin öffnete Method die Augen wieder und sah, dass der Kopf verschwunden war. Dafür stand hinter dem Tisch, mitten in der Wand eine lange, dürre Männergestalt in Häftlingskleidung. Sie lachte unbändig und streckte ihre Arme nach Method aus – eine Sekunde später schon spürte der Junge, wie ihn kalte, scharfe Krallen berührten. Sie rissen ihm die Haut auf und gruben sich tief ins Fleisch. Methods Puls schnellte in die Höhe, er fasste sich und wollte fliehen. Er gab keinen Ton von sich, seine Kehle war wie zugeschnürt und brachte nichts hervor als ein paar magere Krächzer.
Method riss sich von der Wand los, machte ein paar unbeholfene Schritte in Richtung Tür, noch mal so viel Schritte waren es bis in den Flur … Aber die Gestalt an der Wand war plötzlich keine Silhouette mehr, sondern wuchs nach allen Seiten, schoss nach oben und stürzte sich wie ein Habicht auf den Jungen. Method fiel zu Boden, zuckte noch ein paar Mal und ergab sich dann der erdrückenden Kraft dieses Wesens.
Er spürte, wie etwas Dunkles, Altes und Böses in ihn eindrang und in seinen Körper floss wie Milch in einen Krug. Schmerz durchfuhr ihn, er bäumte sich auf und fiel in sich zusammen, er hatte keine Kraft mehr, sich weiter zu wehren. Ein schwarzer Schatten rann unter ihm hervor und sickerte durch den Boden in Richtung Keller. Es kam ihm so vor, als würde er ausgeweidet und zerlegt, der Körper fortgerissen, nach unten gezogen, der Seele nach, die ein kleines Loch im Boden hinterlassen hatte.
Das letzte, was Method Sadoroschnyj in seinem Leben spürte, war das Gefühl, wie sich Dielen in seinen Körper bohrten. Dann kam die schwarze Ohnmacht. Dann kam das Nichts.
Gerhard Frei lächelt bissig und zufrieden und wartet darauf, dass das nächste Kind in der Wohnung 14 ins rechte Alter kommt.
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