«Ich zähle mal eins und eins zusammen», überlegte Moser laut, «wenn unser Toter Karl-Heinz Becker ist und verschiedene kosmetische Gesichtsoperationen hinter sich hatte, dann passt das doch bestens mit der beruflichen Tätigkeit des Barons zusammen.»
«Schade, habe ich das nicht vorher gewusst, sonst hätte ich von Magglingen aus direkt nach Prêles fahren können», konstatierte die Frau im Team, während sie auf ihre Uhr schaute und die Herren fragte, ob sie nochmals losfahren solle.
«Nein, Teuerste, dem Baron kannst du morgen einen Besuch abstatten, so er denn nicht in Mostindien ist. Heute müssen wir versuchen, hier mit so vielen Nachbarn wie möglich zu reden, damit wir morgen früh das weitere Vorgehen mit J. R. absprechen können.»
«Gut so, mein edler Ritter und Beschützer, aber nach meinem Kontakt mit dieser Frau Zimmermann rufe ich schnell in der Clinique in Prêles an, in der Hoffnung, Durchlaucht sei morgen dort.»
«Von mir aus kannst du ihn auch ‹Durchlocht› nennen, ihn einfach nicht als ‹Baron von Merkwürden› oder ‹Your Madness› ansprechen», bemerkte Stephan Moser abschliessend.
Gabriela Künzi und Ursula Meister waren inzwischen fündig geworden, zumindest was PP 202 betraf, der Skyline GTR jedoch war weit und breit nicht zu sehen, auch auf anderen Abstellplätzen der Einstellhalle nicht. Stephan Moser erkundigte sich deshalb bei den Kollegen vom KTD, ob sie im Chaos irgendwelche Schlüssel gefunden hätten, die möglicherweise zum Kultauto passten. «Nein, bis jetzt jedenfalls nicht», rief Schöre Kellerhals aus der Ferne des Wohnzimmers. Wo aber war der Skyline?
Nur einige Minuten später kehrte auch Regula Wälchli zum Tatort zurück mit der Mitteilung, dass Frau Zimmermann den Mann rechts auf dem Foto als Karl-Heinz Becker erkannt hatte, wobei er auf der Aufnahme «im Gesicht anders» aussehe als vor zwei Wochen, als sie ihn zum letzten Mal gesehen habe. Beim zweiten Mann und der Frau hingegen habe sie den Kopf geschüttelt. Derweil sich die beiden Medienreferentinnen in Richtung Innenstadt zur Pressekonferenz verabschiedeten, wurde der Tote von Spezialisten in einen Kunststoffsack gelegt und in einem Metallbehälter weggetragen. Veronika Schuler und ihre Assistentin, letztere noch immer bleich, folgten den beiden Männern, die wenig später zum IRM abfuhren, die beiden Rechtsmedizinerinnen hinterher.
Während die drei Ermittler sich auf die Suche nach möglichst auskunftsfreudigen Nachbarn machten, blieben Eugen Binggeli und Georges Kellerhals in der Wohnung zurück, die vom Geruch und der Temperatur her nur langsam wieder annehmbare Aufenthaltsbedingungen bot. Das Durcheinander war nach wie vor total.
Am frühen Abend erreichte Elias Brunner – der seinerseits seinen Chef auf dem Laufenden hielt – der Bescheid von Georges Kellerhals, dass man auf Anhieb noch keine tatrelevanten Spuren habe sicherstellen können und die Arbeit jetzt bewusst bis zum Zeitpunkt der Ergebnisse aus dem IRM unterbreche, um abhängig von den Todesumständen gezielt suchen zu können. Zweifel bestanden auch in Zusammenhang mit dem eingeschlagenen Fenster im Schlafzimmer, waren doch im Rasen keinerlei Fussabdrücke feststellbar. Wie aber waren der oder die Täter in die Wohnung gekommen?
Einen Durchbruch bei den Ermittlungen gab es nach den Befragungen der Nachbarn nicht wirklich. Niemand kannte Karl-Heinz Becker näher, zumal er erst seit knapp einem Jahr im Kappelenring gewohnt hatte. Becker sei ein «Einzelgänger» gewesen, meinte einer, «wenig gesehen worden». Eine Frau wiederum, deren Gatte in einer Garage arbeitete, wunderte sich zusammen mit ihrem Mann, dass sich «so einer» den Nissan Skyline und andere Autos habe leisten können, mit denen er öfter «in der unmittelbaren Nachbarschaft Beifall heischend» herumgefahren sei, sogar zur nahegelegenen Migros, so einer sei doch «krank».
Es liess sich auch nicht herausfinden, womit der «Tüütsche» sein Geld verdient hatte. Das sei bestimmt «ein Zuhälter», bei seinem Aussehen und den «Schlitten», die er gefahren habe, mutmassten die Nachbarn. Alles in allem: Fehlanzeige. Brunner hoffte daher auf neue Erkenntnisse durch Joseph Ritter bei der Fedpol.
Regula Wälchli ihrerseits hatte die Assistentin von BvN erreicht und ein Rendezvous für den nächsten Tag um 8.00 Uhr vereinbaren können, allerdings nur für eine halbe Stunde, nachher sei «Herr Baron von Neippenberg» unabkömmlich, ein Termin folge dem anderen. Laut Aussagen der Assistentin sei es ungewöhnlich, dass der Baron so kurzfristig einen Rendezvous-Termin bestätige, für die Polizei jedoch «mache er gerne eine Ausnahme», was Regula Wälchli ihrer Gesprächspartnerin gegenüber beinahe überschwänglich zu würdigen wusste, total widerwillig zwar, aber ohne, dass man es aus ihrer Stimmlage hätte heraushören können. Insgeheim fragte sie sich nämlich, ob BvN nicht stinknormal auf den Namen Jakob Rüdisühli getauft worden war, bei diesem Gschiiss um seine Person. Aber diese Frage stand nun wirklich nicht zuoberst auf ihrer To-do-Liste. Weil sie nicht allein nach Prêles fahren wollte, bat sie Stephan Moser, sie zu begleiten. Mit anderen Worten: Joseph Ritter musste sich zumindest bis schätzungsweise 9.30 Uhr mit Elias Brunner begnügen.
Nachdem er alle Informationen von seinen «Aussenstationen» beisammen hatte und das IRM versprochen hatte, nach einer weiteren Nachtübung bis 10.00 Uhr erste Resultate zu liefern, war für Joseph Ritter der Ablauf des Dienstags, 30. Januar klar:
8.0 00 Uhr Sichtung Medien.
9.30 Uhr Teamtreff, Vorbereitungen auf die grosse Inforunde.
15.0 00 Uhr weiteres Vorgehen und Aufgabenzuteilungen.
Mit einer SMS teilte er dies seinen Leuten mit und dankte ihnen für die auch an diesem Tag geleistete Arbeit.
Kurz zuvor besuchten an die 20 Medienschaffende die Pressekonferenz der Kantonspolizei Bern. Ursula Meister und Gabriela Künzi waren darauf optimal vorbereitet, sah man von der Tatsache ab, dass die offizielle Medienmitteilung erst zum Schluss abgegeben und verschickt werden konnte, «aus Zeitgründen, weil wir erst vor wenigen Minuten aus Hinterkappelen zurückgekehrt sind und unsere Kollegen dementsprechend erst vor wenigen Minuten briefen konnten», wie Gabriela Künzi sagte. Nach dieser kurzen Einführung kamen die beiden Mediensprecherinnen sofort zur Sache und gaben Details vor allem in Zusammenhang mit dem neuerlichen Tötungsdelikt in Hinterkappelen bekannt. Nach Abschluss dieser Ausführungen folgten die obligaten Fragen der Anwesenden, wobei es eine kurze Runde war, denn erstens gab es relativ wenig zu sagen und zweitens wollte praktisch kein Medienschaffender, dass andere coram publico die eigenen Gedankengänge mitbekam. Solche Fragen wurden unter vier Augen und Ohren nach Abschluss einer Inforunde gestellt.
«Peter Brechbühl von ‹Express Online›: Es besteht ja ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen den beiden Tötungsdelikten. Was wissen Sie? Ich tippe Ihre Antwort gleich online in unsere onlinenews.ch, damit unsere Leserinnen und Leser sofort Bescheid wissen.» Mit diesen Aussagen sorgte Brechbühl bei den übrigen Teilnehmenden für Kopfschütteln, obwohl man ihn nicht wirklich ernst nehmen konnte, denn zu oft hatten sich seine angeblichen «exklusiven Informationen» als grandiose elektronische Zeitungsenten herausgestellt.
«Herr Brechbühl», übernahm Gabriela Künzi den Lead, «wenn Sie sich bereits derart sicher sind: Lassen Sie uns nach der Konferenz an Ihren Erkenntnissen teilhaben? Wir sind offenbar noch nicht auf Ihrem Wissensstand.» Darob schmunzelten verschiedene Journalisten, und eine Anwesende liess sich sogar zu einem «Bravo!» hinreissen, worauf wiederum Brechbühl sichtlich schmollte.
«Herold vom ‹Blick›: Können Sie den Tatabend vom 21. Januar in Bezug auf diesen Elchin Guseinow bestätigen?»
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