Eine Viertelstunde später musste sich Ursula Meister regelrecht eine Gasse durch eine Menschentraube vor dem Kappelenring 7 bahnen. Und per Zufall hörte sie im Vorbeigehen Wortfetzen einer Frau, die mit einem Journalisten von «20 Minuten» sprach, den sie kurz grüsste, ohne stehen zu bleiben und ihm somit die Illusion nahm, dass sie selber mit ihm reden würde. «Mein Mann beobachtet Vögel…, der Polizei heute Morgen gesagt….» Ganz klar: Frau Rindlisbacher hatte ein offensichtliches Mitteilungsbedürfnis. Ob ihr Mann Lukas davon wusste? Wie auch immer: Damit musste man rechnen. Immerhin war es von Vorteil zu wissen, welche Fragen an der Medieninformation gestellt werden konnten.
Minuten später standen die beiden Kommunikationsspezialistinnen vor der Wohnung «Becker», wo man im Innern die Leute bei ihrer Arbeit sah. Noch immer drang ein wenig appetitlicher Geruch aus der Wohnung, weshalb alle, inzwischen auch die Kollegen Brunner und Moser, die bekannten weissen Überzüge trugen, samt Gesichtsmasken, denn man wusste nie, was für Infektionsherde sich um oder in einer Leiche versteckten. In diesem Moment gesellte sich Elias Brunner zu den beiden Frauen.
«Mon Dieu! War das ein Gestank!»
«Elias… war?»
«Ja, denn wie es jetzt noch stinkt, das ist kein Vergleich zu vorher. Die Assistentin von Veronika musste sich sogar übergeben, eher ungewöhnlich in der Rechtsmedizin, aber die Gute ist ja noch nicht sehr lange dabei… Ich erspare euch Details.»
«Ist der Tote dieser Karl-Heinz Becker?»
«Eine heikle Frage. So, wie er da liegt, kann man der Hauswartin keine Identifizierung zumuten. Iutschiin und Schöre suchen in diesem Durcheinander gezielt nach einem Foto des Mannes, damit sie einen provisorischen Abgleich vornehmen können, um sicher zu sein, dass er unsere Leiche ist, dann erst bitten wir Frau Zimmermann um eine erste Einschätzung.»
«Und Veronika, was sagt sie zu den Todesumständen?»
«Liiiiiiiiiiiiiebe Ursula, was wird sie schon gross sagen wollen? Einmal nur darfst du raten.»
«Weitere Informationen nach der Autopsie.»
«Volltreffer. Immerhin schränkt sie die Tatzeit schon einmal ein, mit Einbezug der hohen Zimmertemperatur. Mindestens vier, höchstens sechs Tage. Was heisst, dass…»
«…was heisst, dass der KB für die Tat nicht in Frage kommen kann», schaltete sich Gabriela Künzi in Richtung Elias Brunner dazwischen.
«An deinem messerscharfen Verstand werden wir uns noch einmal alle schneiden, Gabriela. Genau das heisst es», liess sich Elias Brunner verlauten.
Die Ermittler gingen nämlich davon aus, dass die übereinstimmenden Beobachtungen von Lukas Rindlisbacher und Herrn Kim sowie die Aussagen von Veronika Schuler und des KTD den Schluss zuliessen, dass KB am späten Abend des 21. Januar zu Tode kam. In diesem Moment traten Stephan Moser und Eugen Binggeli vor die Türe, auch, um tief durchatmen zu können. Binggeli hielt dabei ein Foto in der Hand, das drei Personen zeigte: Eine Frau um die Dreissig, einen Mann, etwa 50 bis 55 Jahre alt, und den vermuteten Toten, Karl-Heinz Becker, oder wie auch immer. Die Aufnahme war auf der Rückseite mit «Im letzten Sommer» beschrieben und zeigte die drei Personen auf einem Schiff vor der St. Petersinsel im Bielersee, die bekanntlich nur noch eine Halbinsel ist. Das Foto fand Binggeli unter der Matratze versteckt.
«Was Veronika uns noch verraten hat», sagte Binggeli, «ist, dass der Mann offenbar verschiedene Gesichtsoperationen hatte, was durchaus zu den nebulösen Umständen seiner Niederlassung via Fedpol passen könnte. Zeugenschutzprogramm.»
«Das Chaos in der Wohnung, Stephan: Raubüberfall?»
«Gabriela, schwer zu sagen, denn im ganzen Durcheinander liegen schon Sachen herum, die sich zu klauen gelohnt hätte. Weg sind auf den ersten Blick alle elektronischen Geräte. Ich denke, dass ein Rückschluss erst möglich sein wird, wenn uns die genaue Todesursache vorliegt. Ich beneide Veronika nicht, mit ihrem 26-Stunden-Tagesprogramm. Übrigens: Das Fenster im Schlafzimmer wurde eingeschlagen, möglich, dass der Mörder vom Garten in die Wohnung gelangt ist. Abklärungen laufen noch.» «Gabriela, kannst du uns einen Gefallen tun, damit wir keinen Kleiderwechsel vornehmen müssen?», meldete sich Stephan Moser zu Wort. «Klar doch.»
«Auf Parkplatz 202 müsste ein Nissan Skyline stehen. Kannst du das husch checken?»
«Der Wagen von Becker?»
«Autsch! Jetzt habe ich mich geschnitten…»
«Jaja, scho guet, Elias … Komm, Ursula, suchen wir Parkplatz 202.»
Gerade, als die beiden Mediensprecherinnen sich in den Untergrund begaben, erschien Regula Wälchli kurz vor 15.00 Uhr auf der Bildfläche, bestens im Bild, was in den letzten drei Stunden in Hinterkappelen passiert war. Binggeli bat Wälchli, Silvia Zimmermann das Foto zu zeigen, verbunden mit der Frage, ob sie im einen der abgebildeten Herren Karl-Heinz Becker erkenne. Regula Wälchli schaute sich das Bild genauer an.
«Iutschiin, du meinst den Mann rechts?»
«Ja, genau, Veronika scheint sich fast sicher, dass das der Tote in der Wohnung ist.»
«Und wer der Typ links ist, das willst du nicht wissen?»
«Ich denke nicht, dass Frau Zimmermann das weiss, aber frag sie trotzdem mal.»
«Es geht einfacher: Frag mich.»
«Was? Frag mich?»
«Der Herr links, der seinen Arm schützend um die Frau in der Mitte legt, das ist Maximilian Baron von Neippenberg.»
Nach dieser Feststellung waren auch Stephan Moser und Elias Brunner ganz Ohr. Regula Wälchli zeigte sich erstaunt, dass keiner der vier Anwesenden – Moser, Brunner, Binggeli und Kellerhals – Maximilian Baron von Neippenberg kannten, zumindest von den Abbildungen in den Klatsch- und Hochglanzmagazinen her. Dem Schönheitschirurgen – korrekt: dem Facharzt für plastische Chirurgie – gehörten zwei Kliniken für die vornehmlich Reichen und Schönen, oder schön Erhaltenen, wobei der letzte Ausdruck individuelle Interpretationssache schien.
Stephan Moser kam in dieser Situation seinem Ruf als Bürokalb nach: «‹Wie alt sind Sie denn, gnädige Frau?›, will der Schönheitschirurg von seiner neuen Patientin wissen. ‹Ich gehe auf die 60 zu.› – ‹Und aus welcher Richtung?›»
«Sehr schön Stephan, sehr schön. Aber vielleicht verrät uns meine Verlobte noch ein paar pikante Details zu diesem Baron.»
Regula Wälchli konnte aus dem Vollen schöpfen, obwohl sie angeblich nie die entsprechende «Fachpresse» las. Maximilian Baron von Neippenberg – niemand wusste so genau, ob er wirklich so hiess oder sich den Namen beim Titelhändler Konsul Weyer erkauft hatte –, besass zwei Schönheitskliniken, beide mit dem Namen «Venus – Clinique de Beauté», eine in Berlingen in der Nähe von Steckborn am Bodensee, die andere oberhalb von Twann, nahe bei Prägelz – französisch: Prêles –, ganz in der Nähe der Twannbachschlucht, wo Friedrich Dürrenmatt einst den schrägen Kommissär Hans Bärlach aus Bern den mysteriösen Mord an seinem fähigsten Polizeibeamten Ulrich Schmid aufklären liess. Baron von Neippenberg – sein persönliches Logo, edel auf seinem weissen Kittel aufgestickt, las sich als BvN – zeigte sich gerne als Mann von Welt, am liebsten mit bekannten Grössen aus dem Showbiz und der Politik. Überlegung: «Deren Glanz färbt auch auf mich ab.» Die Klinik an der Route de Prêles befand sich in einem ehemaligen Herrschaftshaus mit grossem Park samt altem Baumbestand. Die Aussicht auf den Bielersee war atemberaubend. Besonders auffällig, so Regula Wälchli: BvN liess sich oft mit teuren Autos abbilden, auch mit Oldtimern. Viele ähnliche Modelle seiner Kundschaft verschiedener Hersteller standen jeweils vor der Klinik, ein Hinweis darauf, dass seine Behandlungen preislich vermutlich nicht ganz der M-Budget-Linie entsprachen.
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