Später verkündete Lazarus, Don sei wegen Mordes an mir verhaftet worden. Ich musste lachen. Schallend und aus tiefster Seele. Er dachte wirklich, ich sei tot und irgendjemand in Belgrame wollte ihn zur Rechenschaft ziehen. Was hätte ich nicht dafür gegeben, mehr darüber zu erfahren. Aber ich konzentrierte mich nun auf das Ereignis, das mich sehr viel Zeit und Gedanken kostete: der Praegressus. Ein von den Betreibern organisierter Sex-Krieg, der schlecht zugeordneten Bürgern die Illusion vermittelte, sie könnten ihr Leben ändern. Am Ende dieses Spiels war alles möglich. Natürlich war es ein verabscheuungswürdiger und gefährlicher Vorgang. Aber er machte die Betreiber sehr stolz. Ein Symbol für Belgrame. Und dieses Symbol war es, das wir zerstören mussten, um die Macht zu stürzen.
Ich hatte Jahre investiert, um die bestmögliche Strategie zur Zerstörung des bestehenden Systems zu finden. Der Praegressus hatte sich heraus kristallisiert. Wir mussten alles Menschenmögliche tun. Ich wusste, dass es sich mit unserer Geheimgesellschaft erledigt haben könnte, wenn wir versagten. An diesem Tag würde ich all unsere Abtrünnigen brauchen.
Das Spiel hatte sich gelohnt und wir hatten all unsere regulären Missionen abgeschlossen. Lazarus hatte mir sogar erzählt, dass einige Leute in Distrikt O den Ort unseres Verstecks zu kennen vermuteten. Ich glaubte ihm in der Nacht, als er mit Theodora, einer Arbeiterin aus Distrikt O zurückkehrte, von der er mir seit Monaten erzählt hatte. Ihre Expedition war geplant, es gab Bürger, die wir retten sollten, allen voran ein Wächter. Davon hatten wir noch keinen in unseren Reihen und ich war sicher, dass es einige unter ihnen gab, die klar genug sahen, um sich uns anzuschließen. Das stimmte für Azad, der leider an diesem Tag starb, um andere zu retten.
Lazarus hatte Theodora zum Haupthaus geführt, das mittlerweile ziemlich heruntergekommen war. Ich erkannte ihre Augen unter ihren Tränen wieder. Ich wusste, wo sie herkam und ich wusste, dass ihre Eltern alles verkörpert hatten, woran ich glauben wollte: Liebe. Aber sie repräsentierten auch, ohne es zu wissen, den Tod von Marty. Azad war ihr Geliebter gewesen und auch er war von der Leidenschaft mitgerissen worden. Menschlich. Sofort erzählte ich ihr von unserer Mission. Was Lazarus überraschte. Aber ich hatte Vertrauen und musste meine Last mit jemandem teilen.
Ich musste meine Angst und meine wieder aufkommende Wut irgendwo abladen. Druck ablassen. Als ich ihre Hand ergriff, wusste ich, dass die Menschheit nie wieder Unterdrückung durch den LeXuS erleben sollte. Sobald wir Belgrame hätten, könnten wir in die anderen Städte weiterziehen. Wir hatten keine Gewissheit darüber, wo genau sich diese befanden. Wie war es da draußen? Was für ein LeXuS dort wohl herrschte? Welche Distrikte es wohl gab? Wir hatten so viele Fragen, wie Pläne. Und obwohl ich meine Lippen gerne auf die Theodoras gelegt und sie lustvoll auf dem Tisch im Esszimmer, in dem wir uns befanden, geküsst hätte, ließ ich sie in die ihr von Lazarus zugewiesene Baracke gehen. Sie strahlte verlorene Liebe aus, unsere Zusammenkunft hätte keinerlei Bedeutung. Und ich wollte nicht, dass sie dachte, ich nutze ihre Situation aus. Sie wird auch lernen, frei zu leben und zu entscheiden, wem sie sich hingeben will.
***
Am Vorabend unserer großen Mission sind die Abtrünnigen Dank unserer Vermittler bereits in Belgrame stationiert. Ich bebe vor Ungeduld und Angst. Doch es ist die Erfüllung meines Lebenswerks und ich bin bereit. Ich glaube, das war ich schon immer. Erst Martys Gesicht und dann Dons, erscheinen in meiner Erinnerung und beide verschmelzen sie mit meinen Gedanken. Ich schaue auf das ruhige, schöne Meer hinaus. Die Ruhe ist ein Lebensretter. Ich sehe Theodora am Strand entlang spazieren. Sie ist atemberaubend schön. An Stelle einer Uniform trägt sie ein weißes Kleid aus leichtem, fast durchsichtigem Stoff. Ihr Haar ist offen und fällt bis auf ihren unteren Rücken hinab. Sie hat in den letzten sechs Monaten, die sie bei uns verbracht hat, Farbe angenommen.
Jeanne klopf an die Tür meines Schlafzimmers, dasselbe Zimmer, das ich seit meiner Ankunft bewohne. Die Zeit hat ihrem Gesicht nichts angehabt, die Reife steht ihr gut. Sie war immer wunderschön, es war fast schon absurd. Damals, als das alles nur eine seltsame Utopie war, in die ich hineingeraten war, wandelte immer Jeannes Körper durchs Haus.
Jetzt ist sie bei mir und wir sind die Letzten, die das Andenken an Marty bewahren. Sie fordert mich auf, sie hart auf der Kommode vor dem Erkerfenster zu nehmen. Passanten können uns sehen und ich glaube, Theodora hebt für einen Moment den Kopf. Wir müssen nicht länger unsere Gefühle oder unsere Leistungen unter Beweis stellen. Jeanne und ich haben schon immer akzeptiert, dass wir Tiere sind, unkontrollierbar. Sie steht auf dem Möbelstück, auf der Höhe meines Glieds. Ich spreize ihre Beine und streichelt verstohlen ihre bereits feuchte Vulva. Ich halte mich damit zurück, sie zu berühren, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Ich weiß, welche Schätze sie für mich bereithält. Ich küsse ihre Schulter und dringe direkt in sie ein. Ich spüre, wie sich ihre Vagina um meinen Penis, den sie in- und auswendig kennt, zusammenzieht. Ich weiß genau, was ihr gefällt und wann sie kommen wird. Ich weiß alles über ihre Gesten, ihre Seufzer und ihre Hände auf meinem Körper. Sie beugt sich nach vorn und ihr Körper wölbt sich unter meinen Stößen. Ich halte meinen Orgasmus zurück, es macht mehr Spaß, gemeinsam zu kommen. Sie umfasst meine Hüften mit ihren Beinen und übernimmt die Führung.
Morgen gehe ich nach Belgrame. Zum ersten Mal seit 20 Jahren. Und wenn es sein muss, werde ich sterben, nicht als Märtyrer, sondern als Held. Jeanne hat Recht, der LeXuS irrt sich nicht.
Auszug aus LeXuS: Azad, der Wächter der Gerechtigkeit
In Belgrame klebt das Blut nicht an den Händen der Betreiber. Es klebt an unseren. An meinen und denen meiner Kollegen. Wenn man ein Wächter ist, ein erlesenes Mitglied der
Wächter der Gerechtigkeit, ist der Tod etwas Alltägliches. Ich habe keine Angst vor Leichen mehr, sie kommen mir schon banal vor. Entmenschlicht. Ich sage mir das jedes Mal, wenn ich im Einsatz bin. Ich versuche mich meiner Schuld zu entledigen, sie weg von meiner Person, auf mein Amt zu schieben. Am Anfang dachte ich nicht, das es mir gelingen würde. Ich war Azad, der Wächter. Alles ging mir nahe, ich konnte meine Perspektive nicht ändern, alles berührte mich. Es bedurfte jahrelanger Übung mich zu distanzieren, Jahre, in denen ich von den Betreibern bezahlt wurde, um wie ein persönlicher Diener für ihre Sicherheit zu sorgen, vor allem aber die Drecksarbeit für sie zu erledigen. Es gibt keinen bestimmten Rahmen, an dem ich mich orientieren kann, wenn eine Mission über die Grenzen meiner Kompetenz und meines Gewissens hinausgeht. Ich bin zum Vollstrecker geworden. Nur dass ich keiner prestigeträchtigen Gruppe zugehöre, ich werde nicht wert geschätzt, ich habe keinen Vorteile dadurch, dass ich der Sache diene. Nein, ich bin ein Produkt des LeXuS und muss mich damit zufrieden geben, ihm über den Distrikt O zu ehren und zu dienen. Ich habe keine Persönlichkeit, ich bin nicht einmal eine Person. Ich bin nur eine weitere Registrationsnummer in der Datenbank. Ein Soldat. Kanonenfutter, wenn eine Schlacht ausbricht.
In gewisser Hinsicht bin ich banal und ersetzbar. Für die Bürger von Belgrame bin ich der Schrecken, der durch ihre Nächte spukt. Ich bin die Angst, die ihre Fehltritte begleitet. Nur sie werden ständig an die Existenz von mir und meiner Kollegen erinnert. Die Jünger des LeXuS fürchten sich nicht vor den Betreibern – sie kennen nicht einmal ihre Namen. Aber uns Wächtern begegnen sie jeden Tag. Wir überwachen ihre Straßen und dringen in ihre Geschäfte, manchmal sogar in ihre Schlafzimmer ein. Wir verwandeln die Befehle von obenin Terror. Und stellen sie niemals infrage. Während der ersten Monate habe ich mir oft gewünscht, ein Roboter zu sein, um den Horror meiner Taten nicht ertragen zu müssen.
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