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In einer nahen dystopischen Zukunft wird die Stadt Belgrame von einer Reihe von Gesetzen regiert, dem LeXuS. Er ist ein totalitäres Regime, in dem Sex zu einem Privileg geworden ist. Man kann ihn kaufen, verschenken, aber er ist nicht für alle zugänglich. Er ist ein Symbol des sozialen Erfolgs und durch seine Regulierung werden sexuelle Straftaten verhindert.
Mit einem eigenen Algorithmus teilt der LeXuS die Bevölkerung in verschiedene Distrikte ein. Die „Funktionäre“ (Distrikt O) sitzen im öffentlichen Dienst. Die „Arbeiter“ (Distrikt I) sind dem Institut von Belgrame zugeordnet. In diesem wird ihnen eine Ausbildung zu Sexarbeitern gegeben. Die „Partner“ (Distrikt II) leben als Paar, unabhängig von ihren Geschlechtern, und haben die Aufgabe, die Kinder, die in Belgrame geboren werden, zu erziehen. Die „Konsumenten“ (Distrikt III) sind am freisten und machen 70% der Gesamtbevölkerung aus. Den „Beraubten“ (Distrikt IV) wird das Recht auf Sex entzogen und sie werden mit einem Implantat versehen. Die „Verdammten“ (Distrikt X) sind diejenigen, die gegen den LeXuS verstoßen haben.
Aber Belgrame erlebt schwierige Zeiten: Abtrünnige, die zu allem bereit sind, um das Regime zu stürzen, um ihre Sexualität frei und ohne Zwangsherrschaft auszuleben, greifen die Stadt an.
Willkommen in Belgrame!
LeXuS, Artikel 1
Jede sexuelle Praktik muss vom LeXuS, je nach Zuordnung der Einwohner, erlaubt sein.
Alle Einwohner, die sexuelle Praktiken außerhalb der an ihren Distrikt gebundenen Regelungen ausüben und deswegen gegen den LeXuS verstoßen, können strafrechtlich verfolgt und zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilt werden.
Jede sexuelle Praktik kann verkauft, gekauft und vermietet werden, wenn die Beteiligten dazu befähigt wurden.
Die Funktionäre (Distrikt O – befähigt) erhalten einen Arbeiter, der ihrem persönlichen Vergnügen gewidmet ist.
Die Arbeiter (Distrikt I – befähigt) sind die Sexualarbeiter.
Die Partner (Distrikt II – befähigt) haben ein beschränktes und exklusives Recht auf Sexualität. Sie dürfen sie nur mit ihrem vom LeXuS zugeordneten Partner erleben.
Die Konsumenten (Distrikt III – befähigt) haben die Wahl über ihre Sexualität.
Die Beraubten (Distrikt IV – nicht befähigt) haben keinen Zugang zu Sexualität.
Die Verdammten (Distrikt X – nicht befähigt) haben keinerlei soziale Interaktion.
LeXuS: Lucrèce, die Verdammten
Artikel M-5367 - Absatz 39
Die Einwohner Belgrames, die dem Distrikt X zugeordnet werden, haben keinerlei körperliche oder moralische Rechte. Dies gilt für alle Einwohner, egal welche Straftat sie begangen haben oder wie hoch ihre Strafe ist.
Der Rechtstaat garantiert einen gerechten Prozess für alle angeklagten Einwohner Belgrames. Nur ein Funktionär kann unter gewissen Umständen um den Transfer oder die Resozialisierung eines Gefangenen bitten.
Kennziffer: X3517
Alias: Lucrèce Verona
Geschlecht: Weiblich, identifiziert
Zuordnung: Distrikt X
Tibalt, mein Mithäftling, mein Freund, mein Geliebter, wird seit heute Morgen als vermisst gemeldet. Im Distrikt X ist „vermisst“ ein Synonym für tot, oder noch schlimmer. Ich möchte es gar nicht wissen. Meine Trauer umhüllt mich, so fest, dass es mir unmöglich ist mein Bett zu verlassen. Dieses Bett mit automatisierten Spanngurten, in dieser sterilen Zelle mit gepolsterten Wänden. Die Verdammten haben bessere Wohnbedingungen als die meisten Konsumenten des Distrikt III, aus dem ich komme. Aber sie haben über den Freiheitsentzug hinaus auch kein Recht auf Sexualität. Wir werden gechippt, festgeschnürt und überwacht. Unser Zeitplan ist strikt und im Sekundentakt geplant. Ich hatte mich an dieses mechanische Regime gewöhnt, aber ich konnte mir nicht vorstellen, mich vom Verlust Tibalts jemals zu erholen.
Am Vortag noch hatte ich ihm versichert, dass ich niemals entlassen würde. Warum? Weil niemand den Distrikt X verlässt. Früher an diesem Tag hatte ich erfahren, dass ein Treffen mit einem Anwalt des Distrikt O, einem hochrangigen Funktionär, anstand. Der Gedanke, die Freiheit wiederzuerlangen, ist in einem totalitären Staat eine Illusion. Dennoch zählte ich auf dieses Treffen, das vielleicht ehrlicher und fairer als der Prozess sein würde, der mir gemacht wurde. Diesen hatte ich schon vor Beginn verloren. Drei Anklagepunkte und einer davon inoffiziell. Tibalt hatte besorgt ausgesehen, hatte mich aber beruhigt, indem er mir gesagt hatte, es sei nicht wegen mir. Was mich wiederum noch besorgter gemacht hatte. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er eine Vorahnung gehabt hatte, dass er etwas gewusst hatte. Er hatte mich nicht eingeweiht.
Und dennoch, heute ist es mit lieber für den Rest meines Lebens hinter Gittern zu sein, als noch einmal den Blick des Mannes zu treffen, wegen dem ich hier bin. Ich bleibe lieber im Distrikt X eingesperrt, ohne Rechte – nicht ohne Privilegien, da es diese in Belgrame gar nicht gab – als diese Konfrontation zu riskieren. Meine Albträume dünnten aus. Mein Schlaf ist über die letzten Monate hinweg wieder erholsam geworden. Nicht zu vergleichen mit früher, aber dennoch ein Fortschritt. Auch wenn ich nichts vergesse, ich es nie vergessen würde, erholt sich mein Körper Stück für Stück. Und das dank Tibalt. Ich schulde ihm vieles. Wie kann ich nur lernen mit seiner Abwesenheit zu leben?
Als Vorbereitung auf das Meeting mit dem Anwalt habe ich mir eher eine Anklage als ein Plädoyer zurechtgelegt. Ich möchte, dass er meine Wahrheit erfährt, dass ich niemals verteidigt oder freigesprochen wurde. Für die Anwälte würde der LeXuS immer die Referenz sein, und sie würden immer die vorgeschriebenen Strafen verhängen, ich hatte keine Chance. Ich muss Hartnäckigkeit, aber auch Demut beweisen.
Auf meinem Halsband stehen die wichtigen Daten meiner Strafe. Alle Gefangenen tragen so ein Halsband, darüber empfangen wir mittels Elektroschocks die Nachrichten der Gefängnisleitung. Ich habe keinen Kontakt zur Außenwelt mehr, ich bekomme keine Besucher. In Belgrame zerbrechen Freundschaften, sobald man als straffällig gilt. Die Einwohner besitzen eine Gleichgültigkeit, die mich immer verwundern wird. Sie sind Roboter. Als würde ihr Gedächtnis zurückgesetzt. Es ist eisig. Ich sollte sie nachahmen, um Tibalt zu vergessen.
Der Anwalt hat mich um einen Lebenslauf gebeten. Von meiner Zuordnung bis zum heutigen Tag. Er möchte sich ein genaues Bild machen, stelle ich mir zumindest vor. Eine Erlösung? Eine Entschuldigung für mein Verhalten? Bei meiner Ankunft hatte mich Tibalt dazu gebracht meine Erinnerungen aufzuschreiben. Kurz, da ich noch keine 30 war, aber prägnant. Ich dachte, ich hätte nur die wichtigsten aufgeschrieben, aber beim erneuten Durchlesen bemerkte ich Anekdoten, unwichtige Details. Ich war mir sicher, dass kein Richter, egal wie menschlich und entgegenkommend er auch seien möge, diesen Erinnerungen einen Wert zuschreiben würde. So sollte es wohl sein. Ich musste mich also auf die drei letzten Jahre konzentrieren. Mir wieder angewöhnen zu erzählen, ein Detail finden, das mir entgangen war. Es war mit Sicherheit meine letzte Chance. Und ich fragte mich, ob die nächsten Jahrzehnte, oder zumindest das nächste Jahrzehnt ohne Tibalt es wirklich wert wären. Im Distrikt X sah man selten Menschen über 40. Auch sie wurden vermisst. Und mich an diese Geschichte zu erinnern, unsere Geschichte, ermöglicht meinen Gedanken kurz der Wirklichkeit zu entkommen. Ich würde darüber nach dem Treffen nachdenken. Ich würde über eine Möglichkeit nachdenken, Tibalt wiederzufinden oder ihn zu vergessen.
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