Wir hatten nicht viel Zeit. Ich war schon im Vorfeld fasziniert. Natürlich dachte ich an Hector und Margot, mit einem fernen Gefühl des Bedauerns für sie. In den Korridoren der Ebene 3 des Krankenhauses, dem großen Fischteich Belgrames, habe ich die Unergründlichkeit und gleichzeitig die Zerbrechlichkeit der dort stattfindenden Operationen, abgeschätzt. Die Betreiber schützen diesen Bereich mehr als die anderen Stockwerke. Und ihre größte Angst ist die komplette oder auch nur teilweise Zerstörung der Entwurfkontrollsysteme des Sektors.
Dort werden die Kinder Belgrames nach einem äußerst gründlichen genetischen Screening gezeugt. Die Keimzellen, die die Fortpflanzung ermöglichen, stammen aus den vor der Sterilisation der Bürger Belgrames obligatorischen Spende. Der Embryo wird in einen Inkubator gegeben, der die Funktion der Gebärmutter übernimmt und mit der Entwicklung des Fötus wächst. Sie werden gemäß dem Zeitplan geboren und Ärzte kümmern sich um diese fiktive „Entbindung“. In Belgrame gibt es keine Schwangerschaften, sie sind verboten, das ist der Sinn unserer Existenz, und ich frage mich immer noch aufrichtig, wie es wohl vor dem LeXuS gewesen war, wenn es so etwas wie ein Davor gegeben hatte. Diese Partner haben es uns bewiesen. Die Methode des Staates führt zu einer Misserfolgsquote von weniger als 1 % und die DNS der Paidi, der im Zentralkrankenhaus geborenen Kinder, ist quasi perfekt. Und doch entwickelt sich diese Perfektion ständig weiter. Im Vergleich zu der neuen Generation bin ich überflüssig. Ich war neugierig auf die Kehrseite der Medaille.
Legassov legte eine gewisse Zuversicht an den Tag. Er strahlte eine Sympathie aus, die mir direkt auffiel. Er wusste nichts über meine Stellung oder die Abtrünnigen. Er vertraute mir instinktiv. Ich war gerührt. Wir wurden von dem Arzt empfangen, der die Antragsformulare für die Adoption ausgefüllt und virtuell einen Embryo für das Paar gezeugt hatte, aber mit meinem Namen und meiner vorläufigen Registrationsnummer war ich nie wirklich gefährdet gewesen und es war fast unmöglich für mich, erkannt zu werden. Die Registrationsnummern der Partner hingegen hätten bei einer Kontrolle Verdacht erregen können. Ich nutze die Gelegenheit, um die Vereinbarung zu unterzeichnen, die es den Partnern erlaubte, ein weiteres Kind aufzunehmen, was derzeit nicht der Fall war. Die Transaktion war einfach. Im Gegenzug verpflichteten sie sich dazu, nichts durchsickern zu lassen und das noch ungeborene Kind als Paidi zu betrachten. Auch das Kind wäre in großer Gefahr, wenn der Verrat aufgedeckt würde. Aber alles war unter Kontrolle. Es waren noch einige Wochen bis zum offiziellen Geburtstermin und bis dahin würden wir alles geregelt haben. Ich schlug Legassov vor, sich uns außerhalb von Belgrame anzuschließen, aber er war noch nicht bereit. Ganz im Gegensatz zu Ild, seiner Partnerin, die ich ein paar Stunden später im Lagerhaus traf. Sie wäre mir gefolgt, weit weg, aber nicht ohne ihn. Liebe spiegelte sich in ihren Augen und in ihren Gesten wieder, und der Anblick ihres runden Bauches berührte mich. Es war das erste Mal, dass ich so einen Bauch gesehen hatte. Sie dankte mir zutiefst und ich ermutigte sie, mich über einen unserer Mittelsmänner zu kontaktieren, wenn sie Lust hatte, Belgrame zu verlassen. Wir wären da.
Dann hörten wir Sirenen in der Nähe des Lagers. Die „Exodus“-Gruppe löste sich auf. Allen war klar, dass eine Razzia durch die Wächter der Gerechtigkeit bevorstand. Es war sogar möglich, dass man uns denunziert hatte. Das wäre eine Katastrophe. Wir hörten, wie der Lieferwagen vor den Metalltüren zum Stehen kam. Jeder wusste, welchen Fluchtweg er einzuschlagen hatte. Legassov nahm Ild mit. Ich habe sie nie wieder gesehen. Und Marty lud seine Waffe. Ich besaß keine Waffen und fühlte mich hilflos. Ed packte mich am Arm, und es fühlte sich genau so an, wie damals, als Hector mich aus dem Auto gezogen hatte. Ein Lichtblitz schlug mich für einen Moment bewusstlos. Wir mussten Belgrame jetzt verlassen. Das Fahrzeug wartete hinter dem Gebäude auf uns. Ich rief nach Marty, aber er hörte mich nicht. Die Wächter waren nur weniger Meter von uns entfernt und es fielen Schüsse. Ich wollte Marty zurückholen und ihn mitnehmen. Ich kam zu spät, zwei Wächter hatten bereits das betreten, was vor ein paar Minuten noch ein Ort der Freude gewesen war, ein Ort der Freude und der Hoffnung. Ed befahl mir, ihm zu folgen und das tat ich. Wenn ich in die Nähe von Marty zurückginge, würden sie mich erwischen. Das Letzte, was ich von ihm sah, war dass er zu Boden stürzte. Direkt am Kopf getroffen. Ich stieß einen gedämpften Schrei auf dem Rücksitz des Autos aus, das Ed fuhr. Er war sich nicht sicher, ob wir es bis zur Grenze schaffen würden, vor allem, da uns die Wächter der Gerechtigkeit aufgespürt hatten. Ich wusste, dass wir heute ein extrem hohes Risiko eingegangen waren. Trotzdem würde ich es nicht bereuen. Ich hätte nie gedacht, dass ich hier einmal Liebe sehen würde.
Aber Marty war tot. Marty war kein Abtrünniger mehr.
Ich würde offiziell den Platz des Anführers einnehmen. Und Marty rechen.
*
Zwanzig Jahre waren nicht genug, um die Erinnerung an diese Nacht auszulöschen. Ich habe Marty nicht vergessen. Ich verdanke ihm mein Leben und er hatte seines durch seine große Geste verloren. Er wollte seine Leute retten und ich wollte das Regime, das sie unterdrückte, stürzen. Wir hatten uns ergänzt. Nach meiner Rückkehr, gaben die Abtrünnigen mir Macht und Vertrauen, ohne eine Zeremonie, stillschweigend und voller Loyalität. Sie wussten, dass wir die Dinge von nun an anders regeln würden. Wir hatten vor, Belgrame zu stürzen.
Man legte mir nahe, meinen Namen zu ändern, um meine Sicherheit nach dem Grenzübertritt zu gewährleisten. Ich lehnte es ab. Ich hatte bis dahin meine Identität behalten und ich hielt an ihr fest. Hier würde man sie mir nicht nehmen, Don und Hector würden nicht alles zerstört haben.
In den ersten zehn Jahren war unsere Gruppe gewaltig gewachsen. Wir waren fast 500 Personen hier am Strand. Soldaten. Verzweifelte Menschen. Verlorene Verliebte. Ich habe meinen Kurs nicht geändert. Ich wollte mit gleichzeitig für Marty und an Don rechen.
Ich war mir nicht wirklich im Klaren darüber, was mir wichtiger war. Jeanne hatte mich vom ersten Tag an unterstützt und auf das gehört, was ich ihr sagte.
In all diesen Jahren habe ich nie wieder einen Fuß nach Belgrame gesetzt. Ich war nicht dazu in der Lage gewesen und malte mir zurecht aus, wie die Betreiber auf der Lauer lagen. Der Zugang zu unserer illegalen Grenze wurde kurz nach dem Vorfall im Lager geschlossen. Der Transport der Bürger wurde nun auf eine andere, weniger organisierte Weise geregelt. Wir weihten die Neuankömmlinge nun bei Einbruch der Nacht in einer Zeremonie ein und ordneten sie dauerhaft den Abtrünnigen zu. Wir entfernten ihre Chips und ihre Armbänder. All das, was Belgrame ihnen gewaltsam aufgedrängt hatte, und es ihm ermöglichte, jeden Bürger aus der Ferne zu identifizieren. Manchmal mussten wir die Verbindungen deaktivieren, bevor wir die Stadt verließen. Im Gegensatz dazu, was man sich vielleicht vorstellen mag, war unser Handeln nicht von Hass motiviert, im Gegenteil.
„Der LeXuS hat sich noch nie geirrt“, sagte Jeanne mir eines Morgens, als sie in meinem Bett lag. „Du bist ein Betreiber. Du bist wie dafür geschaffen, ein Land zu regieren.“
Diese Kompliment ging mir sehr nahe. Sie hatte Recht. Ich hatte meine Ambitionen in den Dienst der Abtrünnigen gestellt. Ich war all der Missionen nicht müde, aber ich wartete auf die eine, die noch vor mir lag.
Lazarus, ein ehemaliger Enteigneter, dem die spektakulärste Flucht aus Belgrame geglückt war, und der nun eine Legende und das Sinnbild des Versagens der Wächter der Gerechtigkeit war, war meine rechte Hand geworden. Er war ein Element von selten zu findender Klarsicht und unerschütterlicher Loyalität. Sowie er mit seinem Liebhaber Gregsen die Grenze überquert hatte, wollte er andere Bürger transferieren. Er war zu allem bereit. Ich übertrug ihm die Verantwortung für die Rekrutierung. Er wusste, wie man Zielpersonen in Belgrame ausfindig machte. Von ihm erfuhr ich, dass Don am Leben war. Natürlich. Und dass er nun ein hochkarätiger Betreiber mit einer steilen Karriere war. Für einen Hochstapler ein beträchtlicher Erfolg. Ich wollte ihm aber nichts. Um ehrlich zu sein, war mein Groll versiegt.
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