Dieses junge Mädchen war in erster Linie ein sogenannter „Kostfresser“. Mädchen bedeuteten für eine Familie eine Last. Sie verschlangen Geld, brachten jedoch keines. Nach der jahrelangen Erziehung verließen sie das Haus und die Familie. Dafür musste man der Familie des Bräutigams auch noch die Mitgift bereitstellen. Mädchen und Frauen mussten somit durch ihre duldenden, stillschweigenden Hände Arbeit Kost und Logis verdienen. Wer nichts taugte, wurde vom Hof gejagt. Was das für eine junge Frau in dieser Zeit bedeutet haben mag, muss kaum beschrieben werden. Diese junge Frau war also von sich aus sehr darum bemüht, den Anforderungen voll und ganz gerecht zu werden.
Die gesellschaftliche Position ist jedoch nur eine Ebene dieser Demut. Das Tierkreiszeichen Jungfrau wird dem Element Erde zugeordnet, welches wiederum stark mit existenziellen Fragen zu tun hat. Im Sommer, bis in die ersten Herbstmonate hinein, wird der größte Teil der Ernte eingebracht. Nach dieser Erntezeit sprießt uns frisches Grün erst wieder im nächsten Jahr, um den Frühjahrsbeginn, aus der Erde entgegen. Wir betrachten hier also einen Zeitraum von sechs bis acht Monaten, in dem die Natur Zeit hat, unsere Regale zu füllen. In der darauffolgenden Jahreshälfte heißt es von dieser Ernte zu leben.
Im 21. Jahrhundert kennen wir dieses Problem kaum noch. Wir schauen in den Kühlschrank, überprüfen mit einem kurzen Blick den Inhalt, steigen in unseren Wagen und decken uns im nächsten Supermarkt mit Nachschub ein. Was für ein Luxus in dieser wunderbaren Welt.
Unsere Jungfrau erfüllte in den kurzen Monaten der Ernte die unendlich wichtige Aufgabe, die Vorratslager der Familie zu füllen. Und dies in einer Konsequenz, Verantwortlichkeit, Gründlichkeit und Penibilität, sodass auch im Februar des kommenden Jahres alle Mitglieder des Hauses bzw. des Bauernhofes noch ernährt werden konnten. Hier ging es nicht um eine Kleinfamilie, denn neben Mutter und Vater gehörten alle Geschwister, die Großeltern, die ledig gebliebenen Tanten, die Mägde und Knechte zur Hausgemeinschaft. Es waren große Vorratsmengen an Lebensmittel und eine weitsichtige Planung in die Zukunft erforderlich. Um diese logistische Höchstleistung zu erbringen, durfte keine einzelne Beere am Strauch verkommen und jedes Weizenkorn war wichtig. Jede Kartoffel vervollständigte eine Mahlzeit und jeder Kürbis konnte über die Gesundheit eines Familienmitgliedes im Winter entscheiden.
Leere Sträucher machen nicht satt!
Für die Jungfrau ist Nachhaltigkeit wichtig. Sie muss auf die Qualität achten. Definiert sie ihre Tätigkeit über die Menge der abgeernteten Sträucher und vernachlässigt dabei die Qualität der eingebrachten Beeren, wird die Familie möglicherweise krank und kann nicht ausreichend gesund genährt über den Winter kommen. Liegt die Aufmerksamkeit während der Arbeit jedoch auf der Qualität der Ernte, geht zwar alles etwas langsamer, der Strauch wird jedoch geschont, die Frucht geerntet und letztlich die Mägen gefüllt.
Mit dem reinen Ernten ist die Arbeit der jungen Frau allerdings noch nicht abgeschlossen, denn es ist lebenswichtig, die Vorräte zu konservieren. Haben Sie schon einmal Marmelade eingekocht oder Sauerkraut hergestellt? Wird dabei unhygienisch gearbeitet, indem z.B. die Gläser nicht gründlich ausgekocht wurden – wird die ganze Arbeit umsonst gewesen sein und alles landet im Müll. Unterlief unserer Jungfrau ein solches Missgeschick, stand damals aber das Leben der ganzen Familie auf dem Spiel!
Ihre Verantwortung für Leib, Leben und Gesundheit ist groß: Stellen Sie sich vor, wie Sie an einem Novembertag in die Speisekammer gehen und die eingelagerten Vorräte sind verschimmelt. Was für ein Schrecken! Nicht nur, dass die junge Frau hierfür in aller Verantwortung vor ihrer Familie dafür gerade stehen muss. Wie kann eine Familie mit dieser Versorgungskrise über die langen und kalten Wintermonate kommen? Einen Supermarkt gab es nicht und das vorhandene Vermögen reichte in den seltensten Fällen aus, diesen Verlust der Vorräte umgehend auszugleichen. Jede noch so kleine Nachlässigkeit der Jungfrau hatte gewichtige Folgen für die ganze Sippe. Dies ist ihr jeden Tag bewusst. Unter diesen Vorzeichen ist es leicht zu verstehen, warum Menschen, die unter dem Zeichen der Ernte geboren sind, oft in einem solchen Ausmaß pingelig und pedantisch sind, dass es ihrer Umgebung fast schon wehtut.
In meinem Bekanntenkreis gibt es ein Paradebeispiel für eine Jungfrau-Sonne. Diese sortiert ihre Wäsche beim Aufhängen an der Leine nach Geschlecht, innerhalb des Geschlechts nach Thema und innerhalb des Themas nach Farben. So füllen diese Wäscheleine beispielsweise Socken, sortiert nach Herren- und Damensocken, der Größe nach und zusätzlich streng im Regenbogenfarbverlauf aufgereiht. Hier herrscht Ordnung.
Wenn nun in diesem Zeichen seit Äonen der Zeit die Verantwortung für die gesunde Ernährung liegt, damit die Familie gestärkt den Winter überleben kann, wen wundert es da, dass hier unglaubliche Ängste vor unerwarteten Veränderung lauern? Was ist, wenn das Wetter umschlägt und die Ernte verringert oder gar zerstört wird? Was ist, wenn jemand (eine Hilfskraft beispielsweise) durch falsche Handhabung oder Lagerung das Erntegut in Gefahr bringt? Was ist, wenn durch mangelhafte Überprüfung Beschädigungen nicht oder zu spät bemerkt werden? Immer ist Angst mit im Spiel. Immer ein Gefühl von Überforderung. Immer droht Gefahr von Krankheit oder Siechtum.
Aus dieser Entwicklungsgeschichte der Jungfrau-Sonne heraus, zeichnet sich die daraus resultierende Lebensangst als ein großes Thema ab. Diese Lebensangst entsteht durch die Gefahr des Abrutschens aus dem der Jungfrau archetypisch zugeordneten 6. Haus in das gegenüberliegende 12. Haus. Dort finden wir den Schatten der Jungfrau, mit all den Themen der Fische.
Und dann wäre da auch noch der „Elemente-Schock“. Was fängt ein Erdzeichen (Jungfrau), das auf den Verstand, auf rationales Denken, auf Analyse, Messen, Zählen, Wiegen, auf alles Begreifbare spezialisiert ist und dort seinen Halt findet, mit dem Element Wasser (Fische) an? Sicher, ohne Wasser erleben wir eine tote und unfruchtbare Erde. Eine geschickte Bewässerung ist somit unerlässlich und im besten Falle ein Segen. Was aber, wenn bei der Jungfrau durch das Abrutschen in ihren Wasser-Schatten dieses Element überhandnimmt? Beispielsweise indem die aktuellen Lebensumstände ihr die Kraft für den Rückweg rauben? Was geschieht mit der Erde, wenn das Wasser sie überschwemmt? Sie wird matschig, schlickig, morastig – sie bietet keinen Halt mehr und keine Sicherheit.
Waren sie schon einmal am Meer und sind bei Ebbe durch den Schlick gewandert? Kennen Sie das Gefühl, wenn der Schlamm unter ihren Füßen wegschwappt und die Füße erst ins Rutschen kommen, bevor sie wieder ihren Halt finden? Plötzlich kommt die Flut schneller als Sie damit gerechnet haben. Sie versuchen zwischen aufsteigender Panik und Vernunft die Mitte zu finden. Die Panik hilft Ihnen, sich zu beeilen. Doch zu viel Panik führt zu kopflosen Aktionen. Die Vernunft analysiert die Situation. „Wo komme ich her? In welche Richtung muss ich gehen? Wo ist mein Ausweg?“ Zu viel Vernunft und Nachdenken ist zu langsam. Die Mitte zwischen Haus 6 und Haus 12, zwischen Jungfrau und Fische, ist eine fruchtbare Zone. Nehmen Haus 12 oder die Energie der Fische jedoch Überhand, droht die Jungfrauenergie zu ertrinken. Die Jungfrau-Sonne hat Angst vor der Angst und versucht diese durch planreiches und geordnetes Verhalten zu vermeiden. Kennt man die lebensbedrohlichen Folgen und die große Verantwortung, die sie trägt, ist dies leicht nachzuvollziehen.
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