… vielleicht hat euer Guido ihn verachtet.
Inf . 10, 63
Man wird heut nicht mehr behaupten wollen, daß die antike Tradition in der VölkerwanderungVölkerwanderung unterging und erst durch die HumanistenHumanismus wieder auferstand: die klassische LatinitätLatinität (klassische) der ausgehenden Republik und der augusteischen Epoche ist uns nicht mehr die Antike schlechthin, und wir bemühen uns, von ihrem Fortleben andere Spuren zu entdecken als ciceronianisches Latein und philosophischen Eklektizismus. Vielmehr scheint uns die Geschichte und Geistesbewegung des frühen MittelaltersMittelalter als ein zwar oft getrübtes, aber doch schließlich siegreiches Wirken spätantiker Gedanken und Einrichtungen, als ein zwar oft sinnwidriges, aber eben darum tief historisches und organisches Weiterbilden derselben. So wie man immer mehr zu der Einsicht gelangt, daß die Geschichte der romanischen Sprachen die eigentliche Geschichte des Lateinischen ist, das klassische Latein dagegen ein Kunstgebilde und seine Nachahmung ein ästhetisches und historistisches Unternehmen – so wie die mittelalterliche bildende Kunst uns heut als deutliche Fortsetzung, Weiterbildung, unablässige Umformung der antik-mediterranen Überlieferung erscheinen will –, so greift auf allen Gebieten frühmittelalterlicher Forschung die Neigung um sich, die Erscheinungen als Zeichen einer weiterfließenden, zwar oft versickernden, oft ins Unkenntliche verbildeten, aber doch letzten Endes herrschenden antiken Tradition zu deuten, als eine Art Vulgärantike also, wenn das Wort gestattet ist; wobei, ebenso wie bei dem viel umstrittenen Wort VulgärlateinVulgärlatein, das Wort vulgär keine soziologisch abschätzige Bedeutung hat, nicht etwa nur die Antike oder das Latein des niederen Volkes bedeutet, sondern lediglich das Unbewußte, Historische, Organische im Gegensatz zum Bewußten, Historistischen und Gelehrten ausdrücken soll.
Es ist selbstverständlich, daß in der Vulgärantike die einzelnen klassischen Autoren und ihre Texte nur eine geringe Bedeutung haben – denn dieses Fortleben vollzieht sich nicht durch Lektüre und Studium, sondern durch Institutionen, Gewohnheiten und mündliche Überlieferung, und sein entscheidendes Merkmal, im Gegensatz zu der Texttreue und Mnemosyne des Historismus, ist unaufhörliche Weiterbildung des überlieferten Stoffes und Vergessen seiner Ursprünge. Es war die Bildung und gebildete Gelehrsamkeit, die tatsächlich abbrach; von den großen Autoren der Antike erhielt sich gar keine oder doch nur eine wirre, immer mehr verblassende Vorstellung. VergilVergil macht als einziger eine Ausnahme; zwar wird auch bei ihm die wirkliche Kenntnis seines Lebens und seines Werkes verworren und ungenau; sie unterliegt, wie die gesamte antike Überlieferungsmasse, sonderbaren und unerwarteten Umbildungen, aber gewisse Elemente seines Wesens bleiben lebendig wirksam, er wird zu einer populären Sagenfigur, die bei aller Entfernung von dem Urbild doch nie ganz die Verbindung zu ihm verliert und die schließlich, in der Danteschen Gestaltung, in tieferer Wahrheit und reinerer Treue zu ihm zurückfindet, als die nur gelehrte und positiv exakte Forschung es vermocht hätte. Dieses außergewöhnliche und mit keinem anderen antiken Schriftsteller vergleichbare Schicksal VergilsVergil hat schon sehr früh das Interesse der modernen Forschung erregt; seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, sich mit dem mittelalterlichen Fortleben der Antike zu befassen, erschienen eine ganze Anzahl von Schriften über den Gegenstand, und die Summe dieser Forschungen zog Domenico ComparettiComparetti, D. in seinem 1872 erschienenen Buche Virgilio nel medio evo , das noch heute viel benutzt und zitiert wird; seine Gelehrsamkeit und bedeutende Materialkenntnis wird aber beeinträchtigt durch ein politisches Vorurteil und noch mehr durch die mangelnde innere und äußere Gliederung des gewaltigen Zeitraums «MittelalterMittelalter».
Der fast paradoxe Tatbestand, daß gerade der durch Bildung, Erudition, formale Kultur und gesellschaftliche Stellung gleichmäßig ausgezeichnete und durchaus nicht im gewöhnlichen Sinne populäre VergilVergil zu einem Dichter des Volkes und schließlich zu einer Sagengestalt wurde, hat zunächst äußere Ursachen. VergilVergil war der Dichter des römischen Weltreichs; er setzte an die Stelle des alten römischen Nationalgefühls, das in seiner stadtstaatlichen Beschränkung und seiner italischen Bauerntugend längst seine Geltung verloren hatte, die Ideologie von der Weltmission Roms; er vollendete die Verknüpfung der politischen Lage seiner Zeit mit der sagenhaften Urgeschichte der alten Welt und schuf den Mythos eines planvollen göttlichen Weltlaufs mit dem Ziel der pax romana Pax Romana , des universalen Friedens unter cäsarischer Herrschaft. Durch diese seine Bedeutung gelangte er in den Elementarunterricht und behauptete darin ganz natürlich den ersten Platz, solange das ImperiumImperium Romanum des weströmischen Reiches bestand. Inzwischen war er zu einer gleichsam mechanischen Popularität gelangt, der Unterricht in der Grammatik beruhte vielfach auf Beispielen aus seinem Text und auf Kommentaren zu seinem Werk. Der Schulbetrieb des Elementarunterrichts hielt ihn aufrecht in den freilich nicht allzu langen Zeiträumen, in denen der eigentliche Gehalt seiner Dichtung bedeutungslos war. Diese Zeiträume waren kurz, vielleicht ist in manchen Gegenden Italiens, in Neapel ganz gewiß, die inhaltliche Wirkung nie ganz verlorengegangen. Der Traum vom römischen Weltreich war sehr bald von den Barbarenvölkern aufgegriffen worden, und seine Verbindung mit politischen Plänen und apokalyptischen Visionen während des ganzen MittelaltersMittelalter ist gerade in letzter Zeit mehrfach dargestellt worden. Sie beruht auf der eigentümlichen Doppelstellung Roms als traditioneller Inhaberin der irdischen Weltherrschaft und als Sitz des Nachfolgers Petri. Und von neuem schien gerade das Werk VergilsVergil die Idee des sacrum imperium sacrum imperium zu legitimieren und die planvolle Kontinuität der Weltgeschichte zu erweisen. Die allegorischeAllegorie Ausdeutung, die im SpiritualismusSpiritualismus der Spätantike und des ganzen Mittelalters eine so große methodische Bedeutung besitzt, hatte sich seiner bemächtigt und fand schon seit dem vierten Jahrhundert in den Versen der vierten Ekloge, die den Anbruch eines neuen glücklichen Weltzeitalters verkünden, eine Prophezeiung des bevorstehenden Erscheinens Christi. Allmählich wurde so VergilVergil gleich der Sibylle zu einem heidnischen Propheten, zu einem heimlichen Christen oder doch wenigstens zu einem unbewußt inspirierten Künder der göttlichen Wahrheit. Sein auch in einem heutigen Sinne berechtigter Ruhm als eines Dichters, dem tiefste und geheimste Weisheit anvertraut ist, hat diesen frommen Irrtum vorbereitet und bestärkt; der Gang in die Unterwelt im sechsten Buch der Aeneis und die überall in seine Dichtung verflochtenen eschatologischen Mythen umgaben seine Person mit dem Nimbus des Magiers, dem die Geister der Höhe und der Tiefe zu Dienst stehen; in der neapolitanischen Lokaltradition (deren Spuren sich später weit verbreiteten) wurde er zu einer Art Schutzheiligen oder Schutzgeist der Stadt, zu einem echten Zauberer, dessen große und wohltätige Magie rein praktischen Zwecken diente. Als Weiser und als Prophet Christi galt er allgemein, und aus dieser Voraussetzung erklärt sich die Wirkung, die er auf die weltgeschichtliche Spekulation des späten MittelaltersMittelalter ausübte. Der Dichter des römischen Kaisertums und Verkünder der christlichen Wiedergeburt schien ein Zeuge für die Deutung des Wortes von der erfüllten Zeit; der Heiland war erschienen, als die Zeit erfüllt war, als die Welt unter Cäsars Herrschaft den Frieden gefunden hatte; dies schien der natürliche Zustand der irdischen Welt, sie würde genesen und bereit sein für Christi Wiederkunft, wenn sie von neuem geeint unter kaiserlicher Herrschaft im Frieden leben dürfte. So etwa ist der allgemeinste Ausdruck der Lehren, die gerade zur Zeit des endgültigen Verfalls des mittelalterlichen Kaisertums leidenschaftlich verfochten wurden; unter den Streitschriften, die sie vertreten, ist DantesDante Monarchie die bedeutendste und berühmteste, und eines der vielen Gesichter der Komödie selbst ist das einer Streitschrift für das vergilische Weltkaisertum.
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