Archie hatte bereits das Make-up und die Haare erledigt, bevor Dorothy eintraf, und er hatte wie immer gute Arbeit geleistet, sie sah den Fotos sehr ähnlich, die sie am Einbalsamierungstisch aufgestellt hatten. Dorothy zog Gina die roten Stöckelschuhe an, musste dabei daran denken, dass sie sie nie mehr ausziehen würde, nie mehr die Erleichterung empfinden würde, wenn sie die Schuhe nach einer langen Nacht abstreifte. Sie legte ihr die kleinen Creolen an, spürte dabei die Kälte von Ginas Ohrläppchen, wischte einen abgelösten Faden des Kleides von ihren Lippen.
Archie rollte den Sarg auf der Rollbahre heran und fuhr mit der Hand einmal innen herum, prüfte auf Holzsplitter oder Krampen, nach rauen Stellen des Futters. Dann senkte er die Bahre herab, bis die Öffnung des Sargs sich auf einer Höhe mit dem Einbalsamierungstisch befand. Sie stellten sich oben und unten neben Gina und legten die Hände unter ihre Achseln und Knie.
»Eins, zwei, drei«, sagte Dorothy, und sie hoben sie auf drei in die Kiste, senkten sie langsam ab. Dorothy brachte das Kleid in Ordnung, das an einer Seite hochgerutscht war, richtete Ginas Füße aus, legte ihr die Hände auf den Schoß und strich mit einem Finger den Arm hinauf bis zum Schlüsselbein. Archie hatte die Flecken an ihrem Hals erfolgreich überdecken können, man sah sie nur noch, wenn man sehr genau hinschaute.
»Sie sieht friedlich aus«, sagte Dorothy. »Du hast gute Arbeit geleistet.«
»Danke.« Er räumte die Tasche fort, in der die Kleidungsstücke gekommen waren, und begann, den Tisch abzuwischen.
Dorothy legte den Deckel auf den Sarg und schob die Rollbahre aus dem Einbalsamierungsraum ins Hauptgebäude, durch die Verbindungstür und vorbei an Indy hinter der Rezeption, weiter in den Verabschiedungsraum.
Indy folgte ihr und half dabei, den Sarg von der Rollbahre auf den Tisch in der Mitte des Raums zu heben. Einfaches weißes Tuch, hohe Vasen mit Lilien links und rechts, alles durch die Jalousien in gedämpftes Sonnenlicht getaucht. Zwei Sessel und eine kleine Kommode mit einer Schachtel Papiertaschentücher darauf, an der Wand das Gemälde eines Sonnenuntergangs.
»Ms O’Donnell, richtig?«, fragte Indy.
»Gina, ja.«
Dorothy sah Indy an. Sie wussten beide, wie Gina gestorben war, und empfanden gemeinsam eine unausgesprochene Traurigkeit. Aber es spielt keine Rolle, wie du stirbst, dachte Dorothy, wichtig ist allein, wie du lebst.
»Führst du die Beerdigung durch?«, fragte Indy.
Dorothy nickte.
»Brauchst du dabei Hilfe?«
»Archie und ich haben es im Griff.« Dorothy berührte Indy am Arm. »Keine Sorge, ich möchte immer noch, dass du richtig einsteigst.«
»Ich mache mir keine Sorgen.«
Dorothy hob den Sargdeckel ab und vergewisserte sich, dass sich Gina beim Transport nicht verlagert hatte. Sie sah immer noch aus wie zuvor, bleiche Haut zu einem roten Kleid.
»Sie sieht gut aus«, sagte Indy.
»Archie weiß, was er tut.«
Indy zog den Saum von Ginas Kleid glatt, strich über die Ränder des Innenfutters des Sargs. Sie besaß ein gutes Auge fürs Detail. Sie war sehr gewissenhaft bei der Beerdigung ihrer eigenen Eltern gewesen, was man leicht als Gefühllosigkeit hätte missverstehen können, aber Dorothy wusste es besser. Es war eine Möglichkeit, die Zügel in der Hand zu behalten, wenn das Chaos von deinem Leben Besitz ergriffen hatte.
»Ich erinnere mich, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte Dorothy. »Ich war sehr beeindruckt von dir.«
Indy schaute auf. »Wieso?«
»Es war für dich offensichtlich eine sehr schwere Zeit.«
Indy legte zustimmend den Kopf schief.
»Aber dich hat eine solch tiefe Gelassenheit umgeben«, fuhr Dorothy fort. »Du hast immer so in dir geruht.«
»So hab ich mich aber überhaupt nicht gefühlt«, sagte Indy. »Ich hab mich verloren gefühlt. Aber du hast mich gefunden.«
Dorothy lächelte. »Du hast dich selbst gefunden. Du musstest nur in die richtige Richtung gedreht werden.«
Indy schüttelte den Kopf und blickte auf Gina in ihrem Sarg. Sie streckte eine Hand aus und legte einen Finger an ihren Hals, wo Archie das durch den Gürtel verursachte Mal abgedeckt hatte.
Dorothy erinnerte sich an die junge Frau, die Indy gewesen war, als sie ins Haus der Skelfs gekommen war, um die Beerdigung ihrer Eltern zu organisieren. Ihre Haare waren damals leuchtend rot gewesen, und obwohl ihr Gesicht vom vielen Weinen gerötet und verquollen war, strahlte sie auch etwas sehr Sorgfältiges und Geerdetes aus, selbst bei all dem Schmerz. Sie studierte Psychologie an der Napier University, sagte aber, sie sähe keinen Sinn darin, weiterzumachen. Sie wollte wissen, wie Menschen tickten, aber der Verkehrsunfall, bei dem ihre Eltern nachts auf nasser Straße ums Leben gekommen waren, verdeutlichte, dass alles nur dem Zufall überlassen war, von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus, wenn man daran glaubte. Indy hatte nie daran geglaubt, sagte sie zu Dorothy, trotz ihres Hindu-Erbes, aber ihren Eltern machte es nichts, und sie erlaubten ihr, reibungslos ihren eigenen Weg zu wählen. Nachdem sie tot waren, war sie noch freier, ihren eigenen Weg zu wählen, aber es schien keinen Sinn und Zweck mehr zu haben. Dorothy machte sich Sorgen und hielt den Kontakt aufrecht, wie sie es oft bei jüngeren Hinterbliebenen machte, und als ihr klar wurde, dass Indy es ernst damit meinte, das Studium aufzugeben, meldete sie sich mit einem Job-Angebot.
»Es war mehr als das, und das weißt du auch«, sagte Indy. »Ich war ein Wrack. Du hast mein Leben verändert, Dorothy. Ich meine, natürlich tut es immer noch weh, wenn ich an Mum und Dad denke, dass ich ohne sie weiterleben muss. Aber ich habe jetzt hier ein Ziel, einen Sinn gefunden. Ich habe Hannah. Ohne dich hätte ich heute nichts von alledem.«
»Das hier liegt dir«, sagte Dorothy. »Du bist sagenhaft zu unseren Kunden. Die finden dich alle wunderbar.«
»Ich helfe den Menschen gern.«
Dorothy nickte. »Genau das meine ich doch. Und du bist auch großartig für Hannah.«
»Sie ist großartig für mich.«
Es war ganz nüchtern gesprochen, aber dennoch vollkommen richtig.
Etwas kam Dorothy in den Sinn. »Ist Melanie schon aufgetaucht?«
Indy runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Han hat mit ihrem Bruder gesprochen, und Jenny hat sich unten an der Uni mit einem Tutor getroffen.«
»Sie wird wieder auftauchen«, sagte Dorothy.
»Da bin ich nicht so sicher«, sagte Indy.
»Wie kommst du darauf?«
»Ist nur so ein Gefühl«, sagte Indy. »Ich weiß, dass Han über so etwas wie Intuition lacht, für sie ist alles nur schwarz und weiß, logisch und auf Tatsachen beruhend. Aber bei Mel habe ich ein ungutes Gefühl.«
»Wir sollten die Intuition nicht ignorieren«, sagte Dorothy. »Es ist eben eine Art Wissen, das wir noch nicht ganz verstehen.«
Das Telefon an der Rezeption klingelte, und Indy ging, um den Anruf anzunehmen.
Dorothy richtete einen von Ginas Füßen aus, der leicht nach außen gerichtet war, drehte ihr Bein ein wenig, legte dann eine Hand auf Ginas Hände. Sie starrte sie lange an, wandte sich schließlich ab und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie drückte die Anruftaste und wartete. Sie hatte das Wort »byde« in ihrem Schottisch-Wörterbuch nachgeschlagen, als sie aus Craigentinny nach Hause gekommen war, und neben »leben« bedeutete es auch »ertragen«. Also lautete das Motto von Natalies Schule: »Ich ertrage es.« Das schien zu passen.
»Hallo, Royal Bank of Scotland, Hardeep am Apparat, womit kann ich Ihnen helfen?«
»Ich möchte eine Lastschrift von meinem Geschäftskonto stornieren«, sagte Dorothy.
Es war in weniger als einer Minute erledigt, und Dorothy legte auf. So leicht, eine Verbindung zur Vergangenheit zu kappen.
Indy streckte den Kopf durch die Tür. »Da ist ein Jacob Glassman am Telefon, der darauf besteht, mit Jim über einen Fall zu sprechen.«
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