Sie könnten sich darüber ärgern, dass Sie keinen früheren Zug genommen und keinen zeitlichen Puffer eingebaut haben.
Sie könnten sich über die Bahn ärgern und sich vornehmen, nie wieder mit dem Zug zu fahren.
Sie könnten sich persönlich angegriffen fühlen und denken, dass Sie das Unglück magnetisch anziehen.
Sie könnten befürchten, dass Ihre Verwandten Ihnen Vorwürfe machen werden, weil sie auf Sie warten müssen.
Sie könnten sich entspannt zurücklehnen und freuen, dass Sie noch ein wenig Zeit für sich gewonnen haben, bevor Sie sich ins Familiengetümmel stürzen.
Sie könnten die Situation achselzuckend so annehmen, wie sie ist, und sich überhaupt nicht weiter damit beschäftigen.
Sie könnten die Verspätung in eine launige kleine Geschichte packen und diese Geschichte zur Begrüßung im Familienkreis zum Besten geben.
Bestimmt fallen Ihnen neben diesen sieben Bewertungs- und Reaktionsmöglichkeiten noch weitere ein – sowohl destruktive, die Sie wütend, angespannt oder ängstlich machen, als auch konstruktive, die Ihnen ein Gefühl der Gelassenheit und Fröhlichkeit vermitteln. Überlegen Sie, wie sich die jeweilige Bewertung auf Ihren Seelenzustand auswirken würde und welche Konsequenzen das hätte:
In welcher Stimmung würden Sie bei dem Familienfest ankommen?
Wie würden Sie auf Ihre Verwandten reagieren und diese auf Sie?
Wie würde sich das Familienfest abhängig von Ihrem Anspannungsgrad und Ihrer Laune gestalten?
Gefühle sind Ausdruck des seelischen Erlebens. Sie sind gekennzeichnet durch Lust- oder Unlustempfinden. Neben den Grundaffekten Liebe, Hass, Verlangen, Freude, Traurigkeit und Bewunderung gibt es zahlreiche weitere Gefühle wie Angst, Wut, Ekel, Überraschung, Erleichterung, Reue, Schadenfreude, Schuld, Scham, Zuversicht. Machen Sie eine Liste von Gefühlen: Wie viele Begriffe fallen Ihnen ein? Bestimmt finden Sie mehr als zwanzig weitere Worte für Gefühle!
Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken und überlegen Sie, welche zum Einsatz kommen könnten, damit Sie gelassen und souverän damit umgehen, zu spät beim Familientreffen anzukommen:
Wenn Sie besonders humorvoll und kreativ sind, könnten Sie Ihre Verwandten mit einem kleinen Verspätungsgedicht begrüßen.
Liegen Ihre Stärken in der sozialen Intelligenz, regeln Sie per Handy alles so, dass niemand durch Ihre Verspätung in Unannehmlichkeiten gerät.
Sind Selbstkontrolle und Umsicht bei Ihnen besonders gut ausgeprägt, haben Sie vermutlich so viel Zeitpuffer eingeplant, dass Sie sowieso nicht zu spät kommen werden.
Sie sehen, dass der Einsatz Ihrer persönlichen Stärken gerade in Situationen, die leicht eskalieren könnten, besonders hilfreich ist. Wenn Sie immer wieder daran denken, dass Sie selbst es sind, der einer Begebenheit ihre Bedeutung gibt, und dass Sie die Freiheit haben, diese Bedeutungssetzung zu verändern, bekommen Sie ungeahnte neue Handlungsmöglichkeiten. Sie gehen fürsorglicher mit sich selbst um, befreien sich von äußerer Getriebenheit und erleben größere Selbstwirksamkeit.
Selbstbild und Fremdbild abgleichen
Wenn Sie sich ein möglichst umfassendes Bild von sich selbst gemacht haben, gleichen Sie es mit dem Fremdbild ab:
Wie wirke ich auf andere?
Welche Eigenschaften nehmen meine Mitmenschen an mir wahr?
Gibt es Dinge, die mir selbst vielleicht gar nicht bewusst sind?
Sprechen Sie einen oder zwei Vertraute an und bitten Sie sie, Ihnen zu den oben genannten Fragen ihre Eindrücke zu schildern. Bitten Sie Ihre Vertrauten, auf Wertungen zu verzichten – sie sollen Ihnen nicht sagen, was sie gut und liebenswert oder schlecht und störend an Ihnen finden, sondern wie sie Sie wahrnehmen. Wichtig ist, dass Sie zu den Menschen, die Sie um das Fremdbild bitten, ein möglichst entspanntes Verhältnis haben. So werden Sie sich durch deren Antworten nicht angegriffen fühlen. Gleichzeitig brauchen Sie auch nicht zu befürchten, dass man Sie verletzen will.
Das Johari-Fenster nutzen
Jeder Mensch hat sogenannte blinde Flecken, also Anteile, die ihm selbst unbekannt sind, die aber von anderen gesehen werden. Gleichzeitig hat jeder aber auch Geheimnisse, also Eigenschaften, die nur er selbst kennt und von denen niemand anders etwas ahnt. Diese bewussten und unbewussten Persönlichkeitsanteile werden sehr anschaulich im Johari-Fenster dargestellt (siehe Abbildung 3.1), das von den US-amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham in den 1950er-Jahren entwickelt wurde.
Abbildung 3.1: Das Johari-Fenster stellt die bewussten und unbewussten Persönlichkeitsanteile dar
Sie können Ihre Persönlichkeit ganz bewusst weiterentwickeln, indem Sie das Johari-Fenster nutzen:
Die öffentliche Person (in Abbildung 3.1der Anteil oben links) kann durch Preisgabe von bislang geheimen Anteilen (in der Abbildung unten links) vergrößert werden, sodass Sie weniger Kraft investieren müssen, um Ihre Geheimnisse zu bewahren.
Der blinde Fleck (in Abbildung 3.1der Anteil oben rechts) kann verkleinert werden, indem Sie Feedback von Mitmenschen erbitten und annehmen.
Zugang zum Unbewussten und Unbekannten (in Abbildung 3.1der Anteil unten rechts) bekommen Sie beispielsweise durch eine Psychotherapie.
In Bezug auf das Johari-Fenster gibt es Tests, die mit einer Liste von Adjektiven arbeiten, die man sich selbst zuschreibt und die andere einem zuschreiben. So werden das Selbst- und das Fremdbild verdeutlicht. Fremdbildfragen sind beispielsweise:
Was zeichnet mich in deinen Augen besonders aus?
Wie unterscheide ich mich von den anderen Menschen, die du kennst?
Was hältst du für meine größte Stärke?
Worin siehst du meine größte Schwäche?
Mit welchem Problem würdest du immer zu mir kommen?
Welche Stärke oder Schwäche ist mir selbst gar nicht bewusst?
Was sollte ich beruflich auf jeden Fall noch machen?
Womit sollte ich mich privat auf jeden Fall noch beschäftigen?
Was ist dein größter Wunsch an mich?
Je aufgeschlossener Sie sich darauf einlassen, sich selbst zu verstehen und umfassend kennenzulernen, desto leichter wird es Ihnen fallen, Neues über sich zu lernen. Dann verstehen Sie immer besser, was Sie brauchen und warum Sie es brauchen – eine wichtige Voraussetzung für Selbstfürsorge.
Das Stärkenprofil ausbauen
Es gibt zahlreiche Persönlichkeitstests, die mehr oder weniger aussagekräftig sind. Wenn Sie Spaß an solchen Tests haben, suchen Sie sich im Internet eine seriöse Seite, die Online-Persönlichkeitstests anbietet (beispielsweise www.psychomeda.de
oder www.charakterstaerken.org
), und klicken Sie sich durch diese Tests.
Sie können einen Psychologen, Coach oder Berater aufsuchen, um einen Persönlichkeitstest zu machen. Informieren Sie sich vorher über die Wissenschaftlichkeit und Aussagekraft der angebotenen Tests. Klären Sie die Kosten, denn sie werden nicht von der Krankenkasse übernommen.
Setzen Sie sich in Ruhe hin und denken Sie über sich und Ihre Stärken nach. Vielleicht orientieren Sie sich an den sieben Kardinaltugenden (vier philosophische und drei christliche): Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit, Glaube, Liebe und Hoffnung. Versuchen Sie herauszufinden, welche dieser Tugenden bei Ihnen besonders stark vertreten sind. Schauen Sie sich die Analyse an, die Sie anhand der weiter vorne in diesem Kapitel genannten Fragen erstellt und vielleicht schon mit einem Fremdbild abgeglichen haben. Die folgenden Fragen können Ihnen zusätzlich helfen: Wenn Sie die nach der jeweiligen Kardinaltugend genannte Frage offen und ehrlich im Wesentlichen mit »Ja« beantworten und wenn Sie in Ihrer Analyse und dem Abgleich von Selbst- und Fremdbild dazu einige konkrete Punkte festgehalten haben, lohnt es sich, in diesem Bereich nach individuellen Stärken zu suchen.
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