Oder hatten sie das vielleicht doch ein bisschen?
Ich rieb meinen schmerzenden Schädel. Ehrlich gesagt, hatte ich mir bisher noch nicht so viele Gedanken darüber gemacht. In Wirklichkeit stand es gerade auch gar nicht zur Debatte. Meine Rahmenbedingungen förderten es nicht wirklich, darüber zu philosophieren. Ohne Mann musste ich schließlich gar nicht erst an Kinder denken. Aber das hatte ja auch noch Zeit. Zumindest in meinen Augen. Wenn ich mir die Sprüche der anderen anhörte oder an die zahlreichen Beileids-Bekundungen gestern zu meinem Alter dachte, sahen das wohl nicht alle so.
Ich fand es schon befremdlich, was alle mit der „30“ hatten. Sicherlich meinten viele ihre Sprüche einfach nur witzig. Dennoch war es ja offensichtlich ein großes Thema.
Denn nicht nur meine ehemalige Kollegin hatte große Probleme damit. Auch für viele meiner Mädels war es ein Riesenthema.
Und für mich? Die Wahrheit war, ich wusste es nicht.
War das unnormal? Sollte es mir Angst machen, dass offenbar jeder in meinem Umfeld einen festen Lebensplan hatte, den er unbedingt einhalten wollte, nur ich nicht?
Oh Mann, was war denn jetzt los mit mir?
Ich steckte wohl wirklich mitten in einer After-Party-Melancholie-Stimmung.
Naja, aber es schadete ja nicht, sich mal ein paar Gedanken zu machen. Jetzt war ich eh mitten in meinem Gedankenkarussell gefangen. Es war also Zeit für eine kleine Bestandsaufnahme:
Ich, Felicitas Weber, war (gerade) 30 Jahre alt, Single und arbeitete als selbstständige Immobilienmaklerin in einem namhaften Maklerbüro in Bielefeld. Gebürtig kam ich aus einem kleinen Dorf in Ostwestfalen, gar nicht so weit von Bielefeld entfernt. Vor ein paar Monaten hatte ich dieses Dorf verlassen, um beruflich in Bielefeld durchzustarten. Seitdem hatte sich mein Leben ganz schön geändert, vor allem auch mein Selbstbewusstsein. Das hatte eine Zeit lang nämlich ganz schön gelitten und sah damals noch ganz anders aus.
3 - Flashback
Mein Leben war jetzt keine „Vom Entlein zum Schwan“-Geschichte. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass mir der Umzug nach Bielefeld gutgetan und einiges in mir bewegt hatte.
Ich liebte mein Leben im Dorf und bei meinen Freunden, aber trotzdem war es Zeit für einen Tapetenwechsel. Im Dorf lebte ich bei meinen Eltern im Haus. Zwar hatte ich dort eine eigene Wohnung, dennoch war Privatsphäre immer noch ein Fremdwort. Als Immobilienkauffrau in einer Verwaltung hatte ich einen nicht allzu spannenden, dafür jedoch einen sicheren Job. Meine Freunde und meine Familie lebten alle in meinem näheren Umkreis. Es war alles schön, bis ich mich Hals über Kopf verliebte. Zum ersten und bisher letzten Mal in meinem Leben.
Ich lernte Mirko auf einem Schützenfest kennen. Es war ein heißes Juliwochenende und ich war mit meinen Mädels tagsüber im Freibad. Damals waren wir zwar nicht alle Single, allerdings noch alle kinderlos, sodass solche Nachmittage keine Seltenheit waren. An diesem Tag waren wir total aufgedreht und wollten unbedingt tanzen gehen. Das war nicht schwer, denn im Sommer war immer irgendwo Schützenfest. Wir radelten schnell nach Hause, machten uns frisch und ließen uns ins Nachbardorf fahren.
Die Musik erreichte uns schon, als wir aus dem Auto stiegen, und wir liefen sofort auf die Tanzfläche. Als die Band Pause machte, brauchten wir auch unbedingt eine Erfrischung und machten uns auf den Weg zur Theke. Wir trafen direkt ehemalige Schulkollegen und gesellten uns zu ihnen in den Kreis. Benni, unser ehemaliger Jahrgangsstufensprecher, gab gerade eine Geschichte aus alten Zeiten zum Besten, als plötzlich ein Tablett Bier neben mir auftauchte und mich zwang, den Kreis zu öffnen.
„Mirko, mit dir trinke ich am liebsten!“, tönte Benni und hob augenzwinkernd sein Glas. Auch der Tablettträger, der offensichtlich Mirko war, nahm sich ein Bier und prostete uns zu. Ich merkte, dass Rebecca große Augen bekam und den Unbekannten anstarrte, als er sich mir zuwandte.
„Und wo hat Benni euch akquiriert?“ Ich musste laut loslachen, weil diese Anspielung so tausendprozentig auf Benni, der mittlerweile Außendienstmitarbeiter mit Leib und Seele war, passte.
„Bei uns hatte er leichtes Spiel, wir kennen uns aus der Schule.“, gab ich zurück, als die Musik wieder einsetzte.
„Lust auf ein Tänzchen?“
Das musste man mich nicht zweimal fragen. Ich rief meinen Mädels noch ein fröhliches „Bin gleich wieder da“ zu, als Mirko mich schon auf die Tanzfläche zog.
Auch dabei entging mir Beccis schnippischer Blick nicht, den ich aber ignorierte. Keine Ahnung, was sie hatte. Ich versuchte das auszublenden, denn ich wollte mir den Abend nicht vermiesen lassen. Ich liebte Becci, aber manchmal war sie etwas eigen. Sie lästerte gerne und viel. Das war durchaus unterhaltsam, konnte allerdings auch wirklich anstrengend sein. Wenn sie wollte, fand sie immer irgendetwas, was ihr nicht passte. Und sie war nicht gerade eine Meisterin darin, ihre Meinung zu verbergen. Doch da wir uns schon unser ganzes Leben lang kannten, hatte ich gelernt, ihr manchmal wirklich unangebrachtes Verhalten einfach zu ignorieren und mir meine gute Laune nicht vermiesen zu lassen. Das klappte nicht immer, an diesem Abend allerdings schon.
Mirko und ich tanzten ein Lied nach dem anderen, und es stellte sich gar nicht die Frage, ob wir zurück zu den anderen gingen. Nicht nur das Tanzen lief wie von selbst. Irgendwie schafften wir es sogar, zwischen tausend Drehungen ein Gespräch zu führen. Mirko war witzig. Es fühlte sich gar nicht so an, als hätten wir uns gerade erst kennengelernt.
Es stellte sich heraus, dass Mirko zwei Jahre älter war als ich und zusammen mit Benni Fußball spielte. Er wohnte nur ein paar Dörfer weiter, aber ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Das war komisch. Auf dem Dorf kannte schließlich jeder jeden, zumindest vom Sehen. Heute war ich froh, dass es doch noch Überraschungen gab. Die Zeit verging wie im Flug und die Band kündigte das Ende des Abends mit dem typischen Rausschmeißersong „Angels“ von Robbie Williams an. Ich verdrehte die Augen und zog Mirko schon Richtung Theke, als er mich zurückhielt.
„Du willst doch wohl nicht schlappmachen?“ Er zwinkerte mir zu und ich ließ mich bereitwillig zurück auf die Tanzfläche holen.
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob es das Bier war, die laue Sommernacht oder das schmalzige Lied. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem, jedenfalls war meine Wahrnehmung ziemlich gedämpft, als Mirko plötzlich die Arme um mich schloss und mich an sich zog.
In meinem Zustand genoss ich die Nähe und wünschte mir ausnahmsweise, dass dieses Lied nicht so schnell zu Ende gehen würde. Mirko schien es ähnlich zu gehen. Als ich meinen Kopf von seiner Brust hob, sah ich direkt in seine tiefgrünen Augen. Er zog mich noch fester an sich und ohne meinen Blick loszulassen, näherte er sich meinem Gesicht immer weiter, bis sich schließlich nicht nur unsere Blicke, sondern auch unsere Lippen trafen. Erst der große Jubel nach den letzten Takten des Songs ließ uns in die Realität zurückkehren.
Auch noch fünf Jahre später überkam mich jedes Mal der Drang, mir mit der flachen Hand vor den Kopf zu schlagen, so klischeehaft, schmalzig und bekloppt war diese Situation schon in meinen Gedanken!
Beim Nachmittagskaffee mit meinen Mädels am nächsten Tag war ich natürlich Gesprächsthema Nummer eins. Ich war ja selbst schuld. Offensichtlicher als mitten auf der Tanzfläche hätte ich meinen Flirt auch nicht platzieren können. Naja, sollten sie ihren Spaß haben. Am nächsten Tag würde das Thema eh Geschichte sein. Eigentlich doch etwas schade, denn irgendwie mochte ich Mirko sofort. Aber so eine Nummer fiel schließlich immer in die Kategorie „einmalige Sache wegen zu viel Alkohol“.
Das sah Mirko allerdings anders. Noch am gleichen Abend erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht mit einer Einladung zum Kaffee für den nächsten Tag. Ich wusste noch nicht mal mehr, dass ich ihm meine Nummer gegeben hatte. Und irgendwie freute ich mich auch über die Nachricht. Aus diesem Grund, aber mehr noch, weil am nächsten Tag Sonntag war und ich noch nichts vorhatte, sagte ich zu. Der Sonntag mit ihm verging wie im Flug und auch ohne Bier und Schützenfestmusik hatten Mirko und ich riesigen Spaß zusammen. Es blieb nicht bei dieser Verabredung und ich fing an, ihn bei jedem Treffen mehr zu mögen. Mit Mirko war es so leicht und so ungezwungen und trotzdem hatte ich das Gefühl, als würde er sich wirklich für mich interessieren. Schneller, als ich es mir eingestand, war ich hin und weg von diesem tollen Typen aus dem Nachbardorf. Es schien, als würde es ihm ähnlich gehen.
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