Ungeduldig öffnete ich die nächste Nachricht.
„Feliiiiiiiiiiiiiiii, oh Mann, du Arme, trag es mit Fassung. Von Herzen alles Liebe!“
Ohne den Absender zu lesen, wusste ich, dass diese Nachricht von Senna kam. Mit Senna hatte ich mir lange ein Büro geteilt. Sie war vier Jahre älter als ich und ich wusste noch genau, wie fertig sie kurz vor ihrem 30. Geburtstag war. Schon ein halbes Jahr vorher musste ich ihr jeden Morgen versichern, dass sie KEINE neuen Falten hatte und dass sie auch nicht langweilig war, wenn sie nicht freitags UND samstags auf die Piste ging. Mit einer Inbrunst erklärte sie seit ein paar Jahren auf ihren Geburtstagspartys, dass sie ihren 29. Geburtstag feierte – plus X, wobei sie das „X“ immer mit der Zahl ersetzte, die addiert zu 29 ihr richtiges Alter ergab. Ich verstand ihre Sorgen nicht ganz, fand ihre überschwänglichen Klagen über das Alter aber immer recht amüsant.
Je mehr Nachrichten ich erhielt, desto häufiger las ich allerdings ähnliche Sprüche und musste feststellen, dass Senna kein Einzelfall war. Hilfe, was hatten denn alle mit dem Alter? Ich wurde 30 und nicht 50! Eigentlich war es mir auch relativ egal, wie alt ich wurde, ich freute mich einfach auf das Feiern und darauf, gleich alle meine Liebsten bei mir Zuhause zu haben. Besser ich konzentrierte mich also darauf und nicht auf weitere Beileidsbekundungen.
Ich aß mein letztes Stück Brötchen und schlenderte mit meinem Rest Kaffee zum Kleiderschrank. Eigentlich hatte ich diesen aus Kostengründen ohne Türen gekauft. In Wahrheit hatte ich aber gar nicht mehr vor, in Türen für meinen Kleiderschrank zu investieren. Ich freute mich jeden Morgen beim Aufwachen über den freien Blick auf meine Kleider und darüber, dass ich noch im Halbschlaf mein Tagesoutfit in Gedanken zusammenstellen konnte. Auch jetzt verzog ich mich nochmal unter meine Bettdecke und scannte den Inhalt des Kleiderschranks.
Ich entschied mich für einen mintfarbigen Faltenrock und ein lässiges weißes Shirt, dazu große goldene Ohrringe und goldene und bunte Armbänder. Ich wollte schließlich zum Frühlingstag passen. Außerdem genoss ich es an meinen freien Tagen immer, von meinen Hosenanzügen und Blusen Abstand zu nehmen und zu dem etwas auffälligeren Schmuck zu greifen. Ich nutzte die Gelegenheit auch, um meine kinnlangen Haare einfach an der Luft trocknen zu lassen. Sollten sie sich auch einmal einen Tag vom Glätteisen und dem strengen Dutt, den ich oft im Büro trug, entspannen können. Zufrieden blickte ich in den Spiegel.
Da meine Familie sich traditionell zum Kaffee angekündigt hatte, deckte ich den Tisch und bereitete alles vor. Geputzt, gebacken, gekocht und für abends die Getränke gekauft hatte ich zum Glück schon alles in der Woche. Ich liebte es, vorbereitet zu sein.
Pünktlich um drei Uhr klingelte es dann an der Tür und meine Wohnung wurde zum Familientreff. Oma und Opa, Mama und Papa und meine Schwester mit Mann und Kind kamen zeitgleich an. Ein richtiger Trubel, aber genau das gehörte zu einem perfekten Geburtstag dazu. „Platz ist in der kleinsten Hütte“, hatte Mama gesagt, als ich sie besorgt anrief, um zu fragen, ob es wirklich in Ordnung war, dass ich sie zu meinem Geburtstag alle zu mir nach Bielefeld einlud und nicht bei meinen Eltern in unserem Heimatdorf feierte. Natürlich wäre es für alle Beteiligten, mich ausgenommen, einfacher gewesen. Irgendwie war es mir jedoch wichtig, meiner Familie mein neues Zuhause zu zeigen, auf das ich so stolz war. Und da es ja auch schließlich mein Geburtstag war, freute ich mich noch mehr, dass Mama mir die Zweifel nahm. Und sie hatte recht. Irgendwie bekam ich alle unter. Die älteren Semester quetschte ich auf mein braunes Wildledersofa, das ich kurz vor meinem Einzug bei Ebay geschossen hatte und das mir schon einige entspannte Sonntage beschert hatte. Meine Schwester samt Mann und Kind musste sich mit Klappstühlen zufrieden geben. Aber jeder fand Platz und auch meine Familie freute sich sichtlich, endlich einmal meine fertig eingerichtete Wohnung bestaunen zu können. Opa, der wirklich zum allerersten Mal hier war, weil ich ihn selbstverständlich nicht als Umzugshelfer gebrauchen konnte, ließ es sich nicht nehmen, sich von mir einmal durch die komplette Wohnung führen zu lassen. Innerlich musste ich grinsen, denn meine zwei Zimmer waren schnell besichtigt. Trotzdem zeigte ich sie ihm natürlich gern. Den Hauptraum, die Wohnküche mit angrenzendem Balkon, hatte er ja bereits gesehen, fehlten nur noch Schlafzimmer und Bad. Bei der Führung bemerkte ich nicht ohne Stolz Opas durchaus interessierten Blicke. Seine abschließende Bewertung: „Schön hast du’s hier“, fiel zwar knapp aus, aber es schwang echte Anerkennung in seinen Worten mit und das war für mich das schönste Kompliment, besonders weil Opa nicht wirklich davon überzeugt war, dass ich einfach so unser kleines Dorf verließ und in Bielefeld einen Neustart hinlegte. Das war eigentlich keiner in meiner Familie. Denn sie glaubten nicht, dass die Großstadt die richtige Umgebung für ein behütetes Dorfkind wie mich war. Ich war da anderer Meinung und deshalb freuten mich Opas Worte umso mehr. Wir waren schließlich Ostwestfalen, da grenzte das schon an einen emotionalen Ausraster.
Zurück im Wohnzimmer versorgte ich erstmal alle mit Kaffee und Kuchen. Dann wurde es etwas ruhiger. Zumindest bis Opa mit seiner Kuchengabel an die Kaffeetasse schlug. Opa war bei feierlichen Anlässen immer ein begeisterter Redner. Mit dem, was jetzt kam, hatte ich aber nicht gerechnet.
„Meine liebe Felicitas, mein jüngstes Enkelkind. Vielen Dank, dass du uns heute alle in deine kleine, aber feine Wohnung eingeladen hast! Ich bin sehr stolz auf dich, das weißt du!“
In Opas Augenwinkel sammelte sich ein kleines Tränchen und seine Worte machten mich ebenfalls ein bisschen sentimental. Offensichtlich hatte ich diese Geburtstagseuphorie von Opa geerbt. Denn Ostwestfale hin oder her – an Geburtstagen ließ er es richtig krachen. Aber das war noch nicht alles.
„Nichtsdestotrotz mache ich mir auch langsam Sorgen um dich. Auch wenn du jetzt deinen Weg in die große Stadt gefunden hast, lass dir gesagt sein: Karriere ist nicht alles, mein Mädchen.“ Bedeutungsvolles Schweigen. „Du müsstest dich auch langsam mal um einen Mann kümmern. Du bist zwar meine jüngste Enkelin, aber jung bist du nun auch nicht mehr. Mit 30 Jahren war ich schon lange verheiratet! Deine Schwester war in deinem Alter auch schon schwanger. Ich will schließlich auch von dir zum Uropa gemacht werden, das weißt du doch!“
Wusste ich das?! Naja, ehrlich gesagt, ja, aber was ich nicht wusste, war, ob ich das auch wollte. Das war in diesem Moment allerdings auch egal. Vielleicht hatte ich mich doch etwas zu früh gefreut. Dass Opa meine Wohnung schön fand und mir meinen Neustart gönnte, hieß noch lange nicht, dass er meine Entscheidung mittlerweile nachvollziehen konnte, geschweige denn richtig fand. Opa war jedenfalls sichtlich glücklich über seine Rede und alle anderen waren sichtlich glücklich, dass wir endlich anstoßen konnten. Also war ich es auch. Mit einem Schluck Sekt würde ich Opas Worte auch gleich besser verdauen können.
„Tante Feli, kommst du jetzt endlich spielen?“, ließ mich meine Nichte auch den letzten trüben Gedanken erst einmal vergessen.
„Ja sicher, Emmi-Schatz!“
Froh, von meinem Klappstuhl aufstehen zu können, setzte ich mich zu meinem Patenkind auf den Boden, wo sie schon ihre Puzzleteile ausgebreitet hatte. Emmi war mein ganzer Stolz. Wir liebten uns abgöttisch und das von der ersten Sekunde an. Schon als ich meine Schwester direkt nach der Geburt im Krankenhaus besucht und Emmi zum ersten Mal auf dem Arm gehalten hatte, war ich hin und weg von diesem kleinen Bündel. Ich genoss jede Minute mit ihr und war jedes Mal wieder überrascht, wie sich so ein kleines Päckchen zu einem so wunderbaren Menschen entwickeln konnte, der aber zugegebenermaßen nicht nur meine Schwester oft auf die Palme bringen konnte. Meine Liebe zu Emmi war grenzenlos und dennoch hatte ich bisher nicht einmal das Gefühl verspürt, dass ich mir genau so einen kleinen Menschen für mich wünschte. Meine Dorf-Mädels waren da ganz anders und auch Louisa hatte schon lange vor Emmis Geburt davon gesprochen, welche Kindernamen sie favorisierte.
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