„Wenn du dich nicht für eine entscheiden kannst, sind vielleicht einfach beide nicht die Richtigen für dich.“ Das kam wohl schnippischer als geplant aus Sinas Mund und sie nahm direkt einen großen Schluck Wein hinterher. Timo, der tausendprozentig wusste, dass Sina auf ihn stand, nahm es gelassen. Tatsächlich hatte er nicht nur in Sina eine Verehrerin gefunden, sondern in bestimmt 90 Prozent der Frauen. Timo sah klasse aus. Er war groß, muskulös, hatte eine offene, lustige, aber nicht zu arrogante Art an sich und wickelte jeden um den Finger. Ich konnte verstehen, warum sich die Frauen um ihn rissen. Sina war eben leider nur eine von ihnen. Und irgendwie tat sie mir leid. Auch wenn sie ein Selbstbewusstsein hatte, von dem ich nur träumen konnte, waren ihre sehnsüchtigen Blicke Timo gegenüber sehr verräterisch. Timo, der sich auch sonst keine Gelegenheit entgehen ließ, wenn eine Frau sich an ihn heranmachte, hätte leichtes Spiel gehabt. Ich hatte noch nicht herausgefunden, warum er gerade bei der schönen Sina nicht zugriff. Sie war nämlich eigentlich genau sein Beuteschema. Ein richtiges Püppchen – von außen wie von innen. Blond, schlank, immer top geschminkt und top gestylt. Sie war nett, aber unsere Gesprächsthemen bewegten sich halt auch nur an der Oberfläche. Ich war mir relativ sicher, dass das nicht nur bei uns der Fall war. Aber das schreckte Timo normalerweise auch nicht ab. Es blieb also ein Rätsel für Maren und für mich, wie wir schon einmal in einer gemeinsamen Kaffeepause philosophiert hatten. Vielleicht besaß Timo doch noch ein kleines bisschen Anstand und riss sich wenigsten bei seinen Kollegen zusammen. Ich nahm mir vor, das noch weiter zu beobachten und bei Gelegenheit noch einmal Maren, die Tratschtante, zu befragen, vielleicht hatte sie ja schon neue Informationen.
„Da hast du recht, Sina. Dann muss ich wohl weiter testen, wie schade.“, gab er mit einem leicht ironischen Unterton zurück und zwinkerte uns zu. Glücklicherweise kam das Essen und die brisante Situation war entschärft. Sina fand auch recht schnell zu ihrer Fassung zurück und konzentrierte sich lieber darauf, das beste Instagram-Foto unseres Festmahls aufzunehmen, als Timos Liebesleben zu hinterfragen. Bevor wir allerdings anfingen zu essen, hob Matthias sein Glas. Ich wusste, dass mir das nicht erspart bleiben würde, schließlich hatte ich nun schon ein paar Geburtstage aus dem Team mitfeiern dürfen und Matthias ließ es sich nicht nehmen, immer ein paar persönliche, fast väterliche Worte zu verlieren. Trotzdem war es mir unangenehm, so im Mittelpunkt zu stehen.
„Felicitas, danke für deine Einladung! Und danke, dass du in unser Team gekommen bist. Wir sind alle sehr glücklich, dich zu haben, und wünschen dir von Herzen alles Liebe für dein neues Lebensjahr.“ Er machte eine Pause und kramte umständlich in seiner Jacke.
„Natürlich haben wir auch noch eine Kleinigkeit für dich!“ Er überreichte mir ein kleines Päckchen und ich machte mich ans Auspacken. Ich traute meinen Augen nicht, als ein wunderschönes, goldenes Armband zum Vorschein kam. Es war sehr filigran und in der Mitte war ein kleiner dunkelroter Stein eingefasst. Es war wunderschön.
„Gefällt es dir?“, fragte Maren aufgeregt und erst jetzt bemerkte ich, dass mich alle anstarrten. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte vielleicht einen Gutschein erwartet, aber keinesfalls so ein persönliches Geschenk.
„Ehhm, ja klar. Ja, es ist superschön. Vielen Dank!“
„Ach, zum Glück“, freute sich Maren. „Du hattest vor Kurzem ja mal gesagt, dass du auf der Suche nach einem schönen Armband bist, aber noch keins gefunden hast.“
Ich hatte nicht gewusst, so aufmerksame Kollegen zu haben, und ich war gerührt von so einem persönlichen Geschenk. Tatsächlich war ich etwas sprachlos. Mehr als „Vielen, vielen Dank!“ brachte ich nicht über die Lippen. Und direkt wurde mir wieder bewusst, dass Bielefeld genau die richtige Entscheidung war. Entgegen aller Warnungen von meiner Familie ging ich in der Stadt nicht unter, ganz im Gegenteil. Ich wurde wahrgenommen. Meine Arbeitskollegen hörten mir zu, was ich sagte, und nahmen es ernst. Mir war schon bewusst, dass es hier nur um ein Geburtstagsgeschenk ging, aber ich war unglaublich gerührt von der Geste. Manchmal glaubte ich, dass ich in dieser großen Stadt mehr wahrgenommen wurde als in meinem kleinen Dorf. Oder zumindest anders. Während Timo mir das Armband direkt aus der Hand nahm und es mir anlegte, fragte ich mich, wo sie es wohl gefunden hatten. Es sah nämlich nicht wirklich nach einem 0815-Modeschmuck-Stück aus.
„Toll“, klatschte Maren in die Hände. „Kompliment, Matthias. Da hattest du wohl den richtigen Riecher.“ Matthias nickte nur und lächelte. Ich stand auf und umarmte alle. Dann konnten wir endlich essen. Es war super-lecker und Timo unterhielt uns dabei noch mit einigen Details, dieses Mal zum Glück von seinem letzten Auftrag. Die Stimmung war ausgelassen und wir hatten alle sehr viel Spaß. Auch Matthias, der sich oft ganz vorbildlich zurückhielt, amüsierte sich prächtig.
Wir waren alle so satt, dass wir den Nachtisch ausließen und lieber einen Käsekuchen-Schnaps bestellten. Die ausgefallenen Schnapssorten waren auch ein Grund, warum ich das Mellow Gold so mochte. Es folgten noch ein paar mehr Desserts, bis die Kellnerin uns mitteilte, dass sie bald schließen würde. Da war es halb 1 Uhr. Ich zahlte und wir machten uns auf den Nachhauseweg. Wieder einmal war ich froh, mitten in der Stadt zu wohnen. Die Unabhängigkeit, die damit einherging, gab mir ein Gefühl von Freiheit, das ich aus meinem Dorf nicht kannte. Auch dieses Gefühl war es, warum ich mein „neues Leben“ so genoss.
Zu Hause bestaunte ich noch einmal mein schönes Geschenk. Als ich es ablegte und zurück in die Schachtel legen wollte, sah ich, dass da noch ein kleiner Zettel drin lag. Ich faltete ihn auseinander und hielt die Luft an, als ich las:
„Der Pyrop gibt Energie, Mut und Willenskraft und stärkt so das Selbstvertrauen.“
Glaub an dich, Felicitas!
Matthias
Ich las den kleinen Zettel bestimmt zehn Mal. Matthias?! Was hatte das zu bedeuten? Also ich wusste schon, dass er immer die Geschenke besorgte, die wir vorher im Team besprachen. Aber setzte er auch immer so eine persönliche Nachricht dazu? Was hatte das zu bedeuten?
Meine Müdigkeit war wie verflogen. Ich hatte keine Ahnung, was ein Pyrop war, aber es hörte sich so an, als wäre es kein Modeschmuck. Meine Google-Suche ergab, dass der Pyrop zu den Granaten gehörte, was mich auch nicht wirklich weiterbrachte. Ich betrachtete das Armband und wurde unruhig. Ich hoffte inständig, dass es wirklich nur ein ganz normales Geschenk von Kollegen war. Erst jetzt sah ich den kleinen Stempel neben dem Verschluss. 585 stand darauf. Langsam wurde ich wirklich nervös. Meine weitere Online-Recherche ergab, dass vergleichbare Armbänder um die 500 Euro lagen. Da hatte der Normalbetrag von 20 Euro pro Kopf aber bei Weitem nicht gereicht, den wir standardmäßig einsammelten. Wieder fragte ich mich, was das wohl zu bedeuten hatte.
Offensichtlich hatte Matthias den Betrag aufgestockt. Machte er das immer so? Wussten das die anderen? Warum machte er das? Und vor allem: Was sollte ich davon halten? Ich war verwirrt und aufgewühlt und machte mir wahrscheinlich schon wieder viel zu viele Gedanken wegen einer einfachen, nett gemeinten Geste. Zumal 500 Euro für Matthias wohl genauso viel Wert hatten wie 10 Euro für mich. Trotzdem war ich verwirrt.
6 - Missverständnisse?
Da mein Schlaf eh unruhig war und immer wieder unterbrochen wurde, machte ich mir um 6 Uhr meinen ersten Kaffee, verzog mich aber damit nochmal in mein Bett. Ich musste nachdenken. Wie kam Matthias darauf, mir ein sündhaft teures Armband zu schenken? Und dann auch noch das supernette Angebot, mir einen großen Auftrag zuzuschustern. Was hatte das alles zu bedeuten? War das nicht ein bisschen zu viel Aufmerksamkeit auf einmal für eine einfache Angestellte? Oder übertrieb ich es wieder maßlos und es war einfach eine gutgemeinte Geste von einem fürsorglichen Chef? Letzteres war wahrscheinlich eher der Fall. Denn was sollte er auch schon von mir wollen? Er war doch glücklich verheiratet und ich spielte auch nicht in seiner Liga der Erfolgsmenschen. Oh Mann, ich war total durcheinander und wusste nicht, was ich glauben sollte. Und noch weniger wusste ich, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Sollte ich Matthias darauf ansprechen? So tun, als ob ich gar nicht gemerkt hätte, wie wertvoll das Armband war? Ihm aus dem Weg gehen?Ahhhhrgh – es war doch alles so gut gerade. Warum musste es denn jetzt kompliziert werden? Es nützte nichts, ich musste wohl oder übel ins Büro. Es wartete eine Menge Arbeit auf mich und je eher ich da war, desto mehr konnte ich schaffen, bevor die anderen kamen. Ich tippte noch schnell eine Nachricht an Mara und Franzi, dass ich unbedingt einen Mädelsabend bräuchte, und fühlte mich direkt besser. Sie kannten meinen Chef und meine Kollegen bereits aus meinen zahlreichen Erzählungen und konnten das Chaos in meinem Kopf sicherlich aufklären. Bis dahin blieb ich einfach cool und konzentrierte mich auf meinen Job. Ja, das war ein klasse Plan! Tatsächlich hatte ich fast drei Stunden meine Ruhe, bevor ein Klingeln den nächsten Kollegen ankündigte, der durch die Eingangstür kam. Vielleicht war es auch Matthias. Auch wenn er selten vor mir da war, war es schon ungewöhnlich, dass er so spät dran war. Bei dem Gedanken an ihn fiel mir vor Schreck fast die Kaffeetasse aus der Hand und ich traute mich gar nicht, meinen Blick von meinem Bildschirm zu heben. Ich verdrehte innerlich die Augen und rief mich zur Vernunft. Ruhig bleiben, Feli!
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