„Das bedeutet Unglück“, jammert Catalina. Isabella weint. Doch die Jungen, die bereits aufgetaucht sind, kommen nicht an Land. Sie schwimmen im Wasser auf der Stelle und blicken in die Tiefe.
Da bewegt sich etwas. Ein Schemen erscheint unter der Wasseroberfläche. Wie ein Korken taucht er auf, heftig nach Luft schnappend, die Augen springen ihm fast aus den Höhlen. Es ist Rodrigo, der Schweinehirte.
Er hebt den rechten Arm aus dem Wasser und reckt ihn in die Höhe. In seiner Hand glitzert es silbern. Er hat es geschafft. Er hat das Kettchen vom Grund des Hafens gefischt. Er war es, nicht Pablo, der Alleskönner. Er, Rodrigo, der Schweinehirte.
Man sieht ihm seinen Stolz nicht an, als er eifrig an die Mauer schwimmt und sich gelenkig aus dem Wasser heraushievt. Dennoch bleibt seine Miene ungerührt, als er Isabella das Schmuckstück überreicht. Wie stolz er ist, wie sein Herz pumpt und schier die Brust zu sprengen droht, wie seine Knie weich werden, das alles sieht man nicht.
Isabella nimmt ihr Schmuckstück mit spitzen Fingern in Empfang. Sie vermeidet es, Rodrigos Hand zu berühren, schlägt die Augen nieder. Was für eine Demütigung. Ausgerechnet der!
„Komm jetzt endlich, komm“, forderte die Amme und zerrte am Arm des Mädchens. Isabella schreckte auf. Sie war ganz in die Erinnerung an jene Szene aus dem Spätsommer versunken. Verwirrt blickte sie sich um. Jetzt war bereits August und früher Morgen. Die drei Schiffe mit ihrem Vater und ihren beiden Onkeln Vicente Yanez und Francisco Martin an Bord waren gerade zur großen Fahrt ins Unbekannte aufgebrochen. Vorsichtig tastete sie nach der Silberkette an ihrem Hals. Die Finger verkrampften sich. Wie dumm und unbesonnen sie gewesen war.
Catalina war es schließlich gewesen, die, nachdem sie erfahren hatte, dass Rodrigo ein Schweinehirte im Dienste ihres Vaters war, darauf gedrängt hatte, dass Isabella sich nachträglich bedankte. „Wie hättest du es Vater erklären wollen, dass die Kette verschwunden ist? Sei nett und gib ihm ein Geschenk!“
Zwei Tage später winkte Isabella den Schweinehirten in den Hof der Casa Pinzon, nachdem sie eine Weile beobachtet hatte, wie er draußen herumstreunte.
Mit vorsichtigen Schritten tappten seine schmutzigen Füße über die kalten Steinplatten. In gebührendem Abstand vor Isabella blieb er stehen.
„Ich habe etwas für dich“, sagte sie spitz. Im Hintergrund wachte Fernanda, die zuvor genaue Anweisungen gegeben hatte. Auf keinen Fall durfte sie den Schweinehirten anfassen. Er mochte schlimme Krankheiten haben oder Ungeziefer mit sich herumschleppen. Dieser Anweisung hätte es nicht bedurft. Isabella dachte nicht daran, Rodrigo zu nahe zu kommen. Sie deutete auf eine Schale, in der Obst lag, Orangen aus Portugal: eine Kostbarkeit.
„Da, nimm dir welche. Ich schenke sie dir.“
Rodrigo blickte fragend. „Warum?“, stammelte er.
„Du hast meine Kette für mich aus dem Wasser geholt“, erwiderte sie schnippisch, während sie mit den Fingern daran spielte. „Sie ist sehr wertvoll. Ich danke dir dafür!“ Die Sätze hatte sie einstudiert. Mehr wollte sie auf keinen Fall sagen. Sie wartete darauf, dass Rodrigo sich an den Orangen bedienen und dann schnellstmöglich den Hof verlassen würde. Aber er stand nur da und staunte sie stumm an.
„Ist etwas?“, fragte sie nach einigen Sekunden. „Magst du keine Orangen?“ Hilfesuchend sah sie zu Fernanda, die im Schatten stand, jederzeit bereit, dazwischenzufahren, sollte sich der Schweinehirte ungebührlich benehmen. Sie nickte ihr aufmunternd zu. Isabella nahm einen neuen Anlauf: „Wenn du keine Orangen magst, vielleicht willst du dann einen Apfel? Oder etwas anderes?“ Diese Frage war eigentlich nicht vorgesehen.
Rodrigo nickte, unfähig, Worte zu formulieren.
„Dann sag: Was willst du gerne haben?“ Jetzt nahm Isabellas Stimme bereits den hochfahrenden Ton blasierten Großmutes an. Vielleicht wollte der Junge lieber ein Stück Brot oder eine Wurst. Das wusste man nie, bei diesen armseligen Hungerleidern. Vielleicht kannte er keine Orangen, wusste nicht, dass dies eine süße Frucht war, welche die portugiesischen Seefahrer aus Indien mitgebracht hatten und die seither auch in Portugal und Spanien angebaut wird. Isabella hätte vieles vermutet, was dem Schweinehirten vielleicht eine Freude machen konnte, aber als er es schließlich drucksend aussprach, fiel sie aus allen Wolken.
„Ich hätte gerne eine Locke von dir!“
„Eine ...!“ Sie war sprachlos. Fernanda kicherte. Schließlich kicherte auch Isabella. Wenn das so war, nun gut. Sie setzte ihr kokettes Lächeln auf, blinzelte gekünstelt mit den Wimpern: „Dann bist du also in mich verliebt?“, resümierte sie.
Rodrigo lief rot an und nickte. Was war das für eine Qual. Niemals in seinem Leben hatte er sich mehr geschämt.
Isabella bemerkt es nicht. Sie winkte Fernanda herbei, lächelte dabei ihr strahlendes Prinzessinnenlächeln und hielt ihr eine schwarze Locke zum Abschneiden hin. Es war nur ein kleines Haarbüschel, nicht länger als ein Kinderfinger, das Isabella ihrem stummen Verehrer in die Hand drückte.
Rodrigo nahm es, schloss die Faust darum und rannte aus dem Hof, als seien die Hunde hinter ihm her.
Isabella lachte vergnügt und klatschte in die Hände. Das war nach ihrem Geschmack.
Obwohl Don Martin Alonso fehlte, das Haupt der Familie, und mit ihm seine beiden Brüder Vincente Yanez und Francisco, ließ sich der beginnende Herbst in der Familie Pinzon fröhlich und unbeschwert an. Isabellas großer Bruder Martin Arias führte redlich die Geschäfte. Der älteste, bald dreißigjährige Sohn von Martin Alonso hatte etwas zu viel Speck auf den Rippen. Er liebte üppige Mahlzeiten und schwere Weine, hatte nie im Leben arbeiten oder um etwas kämpfen müssen. Er genoss den Wohlstand seines Vaters und hatte früh und gründlich gelernt, diesen Wohlstand zu horten und mit seinem listigen Kaufmannsverstand zuverlässig zu mehren. Seinem herrischen und machtbewussten Vater schlug Martin Arias nur in dieser Hinsicht nach. Mit der Seefahrt war es bei Martin Arias nicht weit her. Niemals hätte er wie sein Vater ein Schiff befehligen können. Da vertraute er die Kaufmannsschiffe der Pinzons lieber einem erfahrenen Steuermann und Kapitän an und blieb selbst zu Hause auf der warmen Ofenbank.
So hätte es ihn auch niemals gereizt, an der Fahrt teilzunehmen, auf der sich sein Vater und seine beiden Onkel nun befanden. Welch ein Wahnsinn? Hinauszusegeln auf den Ozean, immer westwärts, in Regionen, wo noch nie jemand gewesen ist, wo es nichts mehr gab, wo überhaupt nichts zu gewinnen war.
Mit Martin Arias als Hausherr fanden in der Casa Pinzon viele Feierlichkeiten statt. Man lud die befreundeten Quinteros aus Moguer ein; auch die weit verzweigte, über alle Orte der Nachbarschaft verstreute Familie Niño war gern gesehener Gast. Beide Familien hatten den Pinzons ihre besten Seefahrer mit auf die Reise gegeben. Peralonso Niño fuhr als Steuermann auf dem Schiff von Admiral Christóbal Colón mit, Juan Niño war Offizier auf der Niña, und Christóbal Quintero fuhr als Erster Offizier auf der Pinta, dem Schiff, das Martin Alonso Pinzon befehligte.
Zum Kreis der angesehenen Kaufmannsfamilien aus Palos, Moguer und Huelva gehörten auch noch die Medel, ebenfalls häufig zu Besuch. Zwei Medel-Brüder fuhren auf der Pinta mit. Ihr Cousin Alonso Medel, ein 18-jähriger Pfau, war der Auserwählte für Isabellas Schwester Catalina. Wenn er auf seinen dünnen, bestrumpften Beinen durch die Casa Pinzon stolzierte, fühlte Isabella sich stets an einen Storch erinnert, wie er draußen durch die Sümpfe am Rio Tinto stochert. Sie mochte Alonso nicht. Wie konnte ihre Schwester sich in diesen eitlen Gecken verlieben? Niemand hatte ihr erklärt, dass diese Ehe mit Liebe wenig zu tun hatte, sondern von den jeweiligen Vätern von langer Hand geplant war mit dem Ziel, den gemeinsamen Reichtum, die Macht und das Ansehen beider Familien zu mehren. Die Hochzeit sollte stattfinden, sobald der Patriarch von seiner Reise zurückgekehrt war. Man rechnete noch im Herbst damit. Viel länger als ein oder zwei Monate, so viel stand fest, würden die Schiffe nicht wegbleiben.
Читать дальше