Rodrigo erschauderte. Das war der Abschied von der Welt.
Nachdem die kleine Flotte La Rabida passiert hatte, steuerte sie backbords in den Rio Saltes, dann hart Steuerbord über die Barre, jene letzte Untiefe, bevor trichterförmig der Fluss ins Meer mündete. Dort kam endlich leichter Wind auf. Die Segel begannen sich aufzublähen. Rodrigo lauschte den Kommandos an Bord, dem Plätschern der Wellen am Schiffsbauch, dem Knarren und Ächzen des Gebälks. Langsam legte sich seine Aufregung, der Pulsschlag normalisierte sich.
Im Osten ging soeben die Sonne auf.
II. Prinzessin Tausendschön
Sie beherrschte mit ihren riesigen azurblauen Augen alle Spielarten eines hochnäsigen Blickes. Selbst beim Wegschauen wirkte sie arrogant. Sie verfügte vollkommen über die Kunst der überheblich hochgezogenen Stirn und des herablassenden Ignorierens. Sie war ein schönes Kind. Schlank, grazil, schwarzhaarig, ebenmäßig. Eine Prinzessin.
Isabella Pinzon, in diesem Spätsommer 1492 zehn Jahre alt, genoss die Spaziergänge durch Palos, die ihr unter der Aufsicht der älteren Schwestern Catalina und Leonora, Amme Fernanda oder Mutter Maria Alvarez Pinzon gestattet waren. Besonders genoss sie es, wenn die Gleichaltrigen sie bestaunten. Die armseligen Kinder der Fischer etwa oder die magerer und halb verhungerten Söhne der Hafenarbeiter und Schafhirten.
Bei diesen Spaziergängen, die von der Casa Pinzon, dem großen Herrenhaus des Vaters, in großem Bogen zum Ort hereinführten, vorbei an der Georgskirche hinunter zum Hafen, dann über den Feldweg zurück zum Haus, das oberhalb des Ortes an der Straße nach Moguer stand, schritt Isabella wie eine zukünftige Königin, fächelte sich unaufhörlich Wind ins Gesicht, blickte so blasiert und unnahbar, wie sie es bei ihren Schwestern abgeschaut hatte, machte zierliche Schritte, hielt den Rücken gerade und den Kopf in die Höhe. Mit ihren zehn Jahren war sie ein spätes Nesthäkchen der Familie und der Liebling ihres Vaters. So wie sie ihn mit Leichtigkeit um den kleinen Finger wickelte und bezirzte, so gelang ihr das auch mit den Menschen ihrer Umgebung. Niemand konnte ihrem Charme widerstehen, ihrem Augenaufschlag, dem Schmollmündchen, der niedlich gerümpften Nase. Und sie war sich ihrer Wirkung bewusst. Für die staunende Dorfjugend stellte schon Isabellas Kleidung eine Attraktion dar. Inbegriff von Reichtum. So dauerte es meist nicht lange, bis ein Schwarm aufgeregter Kinder sie bei ihren Spaziergängen verfolgte. Die Amme versuchte stets, die lästigen Rudel mit dem Schirm zu verscheuchen. Die Schwestern scheuten sich nicht, die Bande mit Stöcken und Steinen auf Abstand zu halten. Isabella beteiligte sich nicht daran. Sie wollte bewundert werden. Es gefiel ihr, bestaunt und bewundert zu werden, mit zierlichen Schühchen, dem raschelnden Kleid, den feinen Handschuhen, bis hin zum Haubenhütchen, unter dem keck ihre schwarzen Locken hervorlugten.
An diesem frühen Morgen war alles anders als sonst. Diesmal war nicht Isabella Pinzon die Attraktion, diesmal versammelten die Menschen sich im Hafen, um der Ausfahrt dreier Schiffe beizuwohnen.
„Papa, Papa“, bedrängte Isabella ihren Vater und hängte sich an seinen Rock. Zuvor hatte er die Mutter zum Abschied geküsst, die beiden erwachsenen Töchter Catalina und Leonora, dann hatte er seine Söhne umarmt, Martin Arias und Juan, die beide während seiner Abwesenheit das Geschäft führen sollten. Und jetzt, jetzt endlich nahm er sich Zeit für seinen kleinen Liebling. Er packte das Mädchen mit seinen kräftigen Händen in den Hüften, hob es hoch und drückte es an sich.
„Ich entdecke ein fremdes Land für dich“, versprach er der begeisterten Kleinen. „Und ich bringe dir Schätze von dort mit, Gold und Edelsteine.“
Sie drückte ihr Gesicht an seine kratzige, nur unzureichend rasierte Wange: „Werde ich dann Prinzessin von diesem Land?“
„Das wirst du, meine Liebe! Das verspreche ich dir.“
„Und bin ich dann die Schönste?“
„Das bist du, Liebling. Das bist du doch immer. Du weißt doch, du bist meine Prinzessin Tausendschön!“
Wie sie diesen Kosenamen mochte. Es beglückte sie jedesmal, wenn Vater ihn benutzte. Dann fühlte sie sich wirklich so: Tausendschön!
Martin Alonso Pinzon setzte sein Töchterchen ab. Sein Blick schweifte über all die Menschen hinweg, die Spalier standen. Seine Augen leuchteten. Sie alle glaubten an ihn. Sie vertrauten ihm. Nicht wahr, Don Alonso, du bringst unsere Söhne heil und unversehrt zurück? So stand es in den Augen der Väter und Mütter geschrieben, die sich auf die Mole gedrückt hatten, um diese Abfahrt mitzuerleben.
Pinzon sputete sich. Die Mannschaften waren bereits alle an Bord, die ersten Kommandos des Steuermannes und des Bootsmannes flogen über Deck. Auch Christóbal Colón, der Admiral der Krone, hatte bereits sein Schiff, die „Gallega“, betreten. Ihm konnte es nicht schnell genug gehen.
Martin Alonso schnaubte verächtlich. „Wir segeln los, wann ich es sage“, dachte er bei sich. „Und so wird es auch auf hoher See sein. Ich werde das Kommando haben. Das sind meine Schiffe und meine Männer. Dieser Genuese, er ist nur ein notwendiges Übel. Wir werden schon sehen.“
Mit diesen Gedanken verließ Pinzon den spanischen Mutterboden und kletterte über den angelegten Steg an Bord seines eigenen Schiffes, der „Pinta“, auf dem er Kapitän sein würde.
In diesem Moment brüllte Martin Arias, Pinzons ältester Sohn und Bruder Isabellas, laut über die Menge hinweg: „Auf Ferdinand, auf Isabella, auf Spanien und das Königspaar, hoch lebe der König!“
Alle stimmten ein: „Hoch lebe der König!“
Isabella, stolz auf ihren Vater, stolz auf ihre Familie, schrie begeistert mit und schwenkte freudig ihr seidenes Taschentuch.
Geisterhaft stumm zogen die Schiffe im Morgenlicht davon, den Rio Tinto hinunter. Sie schoben in kleinen schaumigen Bugwellen den Schmutz des Hafens seitlich vor sich her.
Während sich die Schaulustigen auf der Mole bereits verliefen, huschte unweit eine Ratte vorbei, kläffende Köter hinterher.
Hier im Hafen war nicht der standesgemäße Platz für eine junge Dame wie Isabella Pinzon. Dreckig, stinkig, faulig und modrig war es hier. Isabellas Blick fiel auf einen hageren, kleinen Jungen, der hinter einem hölzernen Poller kauerte und so gottserbärmlich schniefte, dass Isabella ihn nicht ignorieren konnte. Sie zupfte ihre Amme Fernanda am Ärmel der Bluse und machte sie auf das Kind aufmerksam.
„Das wird der Balg von einem der Matrosen sein“, kommentierte das gefühlskalte Kindermädchen. „Das ist nichts für dich Kleines, komm, schau nicht so hin! Die Seeleute können keine Rücksicht auf ihre Bastarde nehmen“, sagte die Amme verächtlich. „Jetzt muss sich der Hungerleider wahrscheinlich ein paar Monate alleine durchschlagen. Vermutlich hat er niemanden.“
„Keine Mutter?“, fragte Isabella ungläubig.
„Keine Mutter! Solche Kinder haben meistens keine!“ Die Amme sagte es mit herrischer Gewissheit. „Das sind Bälger von Huren und Säufern. Sie werden in die Welt gesetzt und dann alleine gelassen.“
Ungläubig stierte Isabella den jämmerlichen Knaben weiter an. Klapperdürr wie eine Vogelscheuche war er, und obendrein trieften die Lumpen, die er an sich trug, vor Nässe. Ob er ins Wasser gefallen war?
Fernanda nestelte unter ihrem Ärmel eine kleine, perlenbesetzte Börse hervor und suchte mit spitzen Fingern einen Kupferreal heraus. „Gib ihm das da!“
Isabella nahm die Münze, trat zwei Schritte auf den zitternden Jungen zu, bis dieser ängstlich auf sie aufmerksam wurde, und warf dann mit graziösem Schwung den Kupferreal über die Steinplatten zu ihm hin. Die Münze fiel klimpernd auf den Stein, rollte noch einen Kreisel und blieb dann in Reichweite des Jungen liegen. Er griff schnell zu. Aus seinen verheulten Augen warf er seiner Gönnerin einen dankbaren Blick zu. Dann sprang er auf und hastete wie ein davongejagter Hund davon.
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