Die Mutter presste pfeifend den Atem aus den Lungen, blickte ungläubig auf ihren Sohn. Da sprang von hinten Miguel hervor, der jüngere Bruder, und zerrte Rodrigo zum Hüttenausgang. „Raus, raus, raus. Du hast ihn tot gemacht!“
Kaum zur Hütte hinaus, tauchten die Brüder ins Dunkel der Nacht.
Aufbruch. Zeit zum Auslaufen. Die kleine Flotte im Hafenbecken, das von einem Arm des Rio Tinto gebildet wurde, war bereit für die Fahrt ins Ungewisse. Die Ladung befand sich an Bord, die Mannschaften standen fest: 90 Mann, 39 auf der Gallega, 27 auf der Pinta und 24 auf der Niña – alle drei Schiffe in tadellosem Zustand.
Mitternacht strich soeben vorüber. Der leicht verhangene Sternenhimmel warf dunkle Schatten. Ansonsten hatte sich Finsternis über die Gassen von Palos gestülpt. Die Glocken der Georgskirche riefen zum Gebet.
Admiral Colón und die Pinzons hatten sämtliche Mannschaften zum gemeinsamen Gottesdienst befohlen. Die Schutzheiligen mussten vor dieser großen Fahrt um Wohlwollen angerufen werden. Ohne Gottes Segen durfte das Abenteuer nicht begonnen werden, zu dem überraschend kein Priester mit an Bord genommen wurde. Diese Ausfahrt in die unbekannte Ferne konnte nur gelingen unter der weihevollen Schirmherrschaft der heiligen katholischen Kirche, weshalb Martin Alonso Pinzon streng darauf geachtet hatte, keine Juden und möglichst wenig Conversos, ehemalige Juden, mit in die Mannschaft aufzunehmen.
Während drinnen in der neu erbauten Georgskirche 90 Männer und viele Angehörige der Wagemutigen andächtig den salbungsvollen Worten des Priesters lauschten, schlichen draußen zwei schmächtige Gestalten durch die verwaisten Gassen hinunter zum Hafen. Aus sicherer Distanz, hinter Sträuchern verborgen, harrten sie eine Weile aus und spähten die Schiffe aus. Die Karavellen im Hafen schienen unbewacht. Die gesamte Besatzung befand sich in der Kirche. Am Heck der drei Segler brannten die Positionslichter, einsam glühende Punkte in der dunklen Nacht. Nur leises Plätschern der Wellen gegen die Schiffsbäuche und die Hafenmauer, gelegentliches Knarren im Schiffsgebälk und leichtes Flattern der Takelage – keine anderen Geräusche waren zu vernehmen.
Wie Katzen schlichen Rodrigo und Miguel zur Kaimauer, nicht weit vom Ankerplatz der drei Segelschiffe entfernt. Die beiden Brüder hatten sich entkleidet, liefen vollkommen nackt durch die Nacht. Ihre schmutzigen Hosen und Hemden hatten sie zu Bündeln zusammengeschnürt, um sie trocken zu halten.
Es stank nach altem Fisch, nach Teer und Salzwasser. Vorsichtig ließen sich die beiden an der Kaimauer hinunter ins lauwarme Wasser gleiten. Die Dunkelheit über dem Rio Tinto verschluckte sie sogleich. Mit vorsichtigen Schwimmzügen erreichten sie die Trossen des Bugankers der Gallega. Dass sie gerade am Flaggschiff landeten, war eher Zufall. Es lag am günstigsten, denn um die Pinta oder die Niña zu erreichen, hätten die Knaben noch weiter schwimmen müssen. Gleich das erste der drei Schiff zu erklimmen, hielten sie für die bessere Lösung.
Affengleich klammerte Rodrigo sich am mächtigen, gedrehten Hanftau fest und zog sich nach oben. Das brackige Wasser plätscherte, als er sich hinaushievte, und die Ankertrosse scheuerte bei den Kletterbewegungen lautstark an den Klüsen und am Beting. Aber auf den Schiffen rührte sich nichts.
Sich auf eines der Schiffe zu flüchten, war ein spontaner Entschluss gewesen. Sie verließen Palos, ein sicherer Weg, um der Rache des Alten zu entgehen, sollte er den Messerstich überlebt haben. Wenn nicht, würde man Rodrigo als Mörder suchen, und Miguel als dessen Helfer. Also mussten sie verschwinden. Möglichst lange und möglichst weit weg. Dass dieser Freitag, 3. August 1492, ein historisches Datum werden würde, konnten die Kinder nicht wissen.
Rodrigo erreichte nach anstrengenden Minuten die Ankerklüse. Von dort erwies es sich für einen geübten Kletterkünstler, wie Rodrigo einer war, als ein Leichtes, über die Reling an Bord zu kommen. Aber unten im Wasser hing immer noch Miguel und kämpfte mit dem Ankertau.
„Was ist los?“
„Ich rutsche ab. Ich komme nicht hoch.“
„Versuch’s!“
„Ich hab keine Kraft mehr. Rodrigo, ich schaffe es nicht.“ Miguels Flüstern klang verzweifelt. Verbissen klammerte sich der kleine Bruder an das Ankertau, schaffte ein kurzes Stück, glitt aber gleich wieder zurück ins Wasser. Miguel war zehn Jahre alt. Er besaß nach dem Schwimmen zu wenig Kraft für den Kletterakt.
Dann begannen die Glocken der Georgskirche zu läuten.
„Sie kommen!“ Ein panischer Ruf Rodrigos.
„Ich kann es nicht, Rodrigo, ich kann es nicht“, weinte jetzt Miguel voller Verzweiflung.
„Miguel! Miguelito!“ Ein geflüsterter Schrei. Rodrigos Hände krampften sich um die Bordwand, er starrte entsetzt auf die dunklen Wellen hinunter. Miguel gab das Ankertau frei, sank erschöpft ins stinkende Hafenwasser zurück. Rodrigo hörte ihn schluchzen.
Dann schwoll der Lärm von den Häusern her an. Helle Fackellichter tanzten durch die Nacht und kamen schnell näher.
Rodrigo musste sich entscheiden: Dem kleinen Bruder treu bleiben und hinterherspringen, zurück ins Hafenbecken. Das bedeutete zurück ins Elend, zurück in die Lehmhütte, zurück in die Hoffnungslosigkeit. Nein! Er entschied sich für den anderen Weg. An Bord bleiben. Lautlos huschte er über die Planken, schlüpfte in eine finstere Luke und verschwand unter Deck. Schon hörte er erste Schritte und Kommandos unmittelbar vor dem Schiff. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Rodrigo kletterte so weit hinunter ins Innere des Schiffes wie nur möglich. Er landete über den Laderaum und das Zwischendeck im untersten Kielraum, der Bilge. Finsternis und brackiger Gestank von abgestandenem Wasser voller Rattenpisse umfingen ihn. Eine zentimetertiefe Pfütze übelriechenden Bilgenwassers stand im Bauch der Gallega. Rodrigo würgte. Tapfer tappte er mit nackten Füßen durchdie schwarze Brühe. Während er sich links und rechts an Stützbalken festhielt und vorwärts schob, hörte er das Fiepen der aufgescheuchten Ratten und das Plätschern, wenn sie sich mit schnellen Sprüngen in Sicherheit brachten. Rodrigo war hartgesotten. Er hütete Ziegen und Schweine; Wanzen und Kakerlaken waren seine Bettgenossen. Und er hatte eine ganz und gar unempfindliche Nase. Der Schiffsbauch mit seinem ganzen finsteren Gestank schreckte ihn nicht. Zudem lenkten ihn die Geräusche ab, die vom Deck herunterdrangen und bezeugten, dass die Mannschaft an Bord kam.
Zitternd an einen der Stützbalken gelehnt, die Augen geschlossen, weil er in der Finsternis ohnehin nichts sehen konnte, lauschte Rodrigo den Lauten. Dann spürte er, die Gallega hatte abgelegt.
Vor Sonnenaufgang drehten sich die drei Schiffe träge von den Hafenmauern in die Flussmitte. Mit Hilfe der Ruderhölzer, welche die Matrosen in gleichbleibendem Rhythmus einsetzten, gewannen sie an Fahrt. Viel Volk hatte sich am Hafen eingefunden, ganz Palos schien auf den Beinen und bestaunte das Auslaufen. Frauen und Kinder. Viele weinten und jammerten, weil sie glaubten, ihre Männer führen ins Verderben. Unter den modrigen Stützbalken an der Hafenmauer saß unbemerkt von der Menge ein weinender kleiner Junge.
Manche fluchten auf Christóbal Colón, aber manche winkten auch, und vereinzelt waren sogar Hochrufe zu vernehmen. Martin Alonsos Sohn, Arias Perez Pinzon, umringt von all den aufgetakelten Pinzon-Damen, darunter die kleine Isabella, jubelte laut: „Auf Ferdinand, auf Isabella, auf Spanien und das Königspaar, hoch lebe der König!“ Die Menge auf der Mole brüllte ihm nach: „Es lebe der König!“
Die Schiffe fanden schnell den Weg aus dem kleinen Hafenbecken hinaus. An Backbord tauchten die Umrisse des Klosters La Rabida aus dem Dunst. Über das Wasser hallte der Gesang der Franziskaner-Mönche zur Prim, der Stunde des ersten Gebets. Bis hinunter in Rodrigos finsteres Versteck war der mystische Chorgesang zu hören, hohe Stimmen, weit in die Nacht hinausgetragen: „Deo patri sit gloria, eiusque soli filio, cum spirito paralito et nunc et in perpetuum.“
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