Die Anwesenheit des legendenumwitterten Kapitäns Christóbal Colón in Palos, den viele wegen seiner Spinnereien „Don Fantastico“ riefen, hatte mit einem spektakulären Auftritt vor einigen Wochen in der Kirche San Jorge begonnen.
Christóbal Colón sprach damals als Unbekannter vor der versammelten Bürgerschaft des Städtchens. Er ließ von Fernandez, dem Notar von Palos, eine königliche Verfügung verlesen. Darin hieß es, die Bürger von Palos müssten dem Kapitän Colón für ein Jahr drei ausgerüstete Schiffe mit Mannschaft stellen und die Kosten dafür tragen, denn dieser Christóbal Colón sei Admiral der Krone und habe den Auftrag, „sich aufzumachen nach jenen Gebieten des Ozeans, wo er bestimmte Aufgaben erledigen soll.“ Niemand hatte eine Vorstellung, zu welchen Gebieten es gehen sollte. Aber bald machten Gerüchte die Runde, dass so weit nach Westen ins atlantische Meer gesegelt werden sollte, wie noch niemals zuvor ein Schiff gekommen war. Colón wollte auf diesem Wege angeblich das Land des großen Khan finden, Zipangu im fernen Asien und Cathay, die reiche Hauptstadt, von der sagenhafte Berichte existierten.
Die alten Seemänner tippten sich an die Stirn, die jungen schüttelten sich vor Lachen über die Vorstellung, die Erde könne per Schiff „umrundet“ werden, wo doch alle Welt wusste, dass man über ihren Rand hinaus ins Nichts stürzen würde. Niemand meldete sich, um an der befohlenen Fahrt teilzunehmen.
Erst als nach Wochen ergebnislosen Bemühens Don Alonso Pinzon öffentlich bekanntgab, er werde eines der Schiffe stellen und zusammen mit seinen jüngeren Brüdern an der Fahrt teilnehmen, fanden sich plötzlich genug Freiwillige. Trotzdem herrschte weiter die Überzeugung vor, es bei Colón mit einem Spinner zu tun zu haben: „Er will nach Indien segeln“, spekulierte einer. „Er sucht die verwunschene Insel Antiglia. Dort gibt es sieben Städte, gegründet von sieben Bischöfen. Sie flüchteten, als die Mauren Spanien eroberten. Der Meeressand soll dort aus purem Gold sein, doch niemand weiß, wo dieses Eiland wirklich liegt“, wusste ein anderer. Ein Dritter erzählte: „Weit im Westen, hinter den azorischen Inseln, da gibt es noch eine Insel, die heißt St. Brandans. An klaren Tagen kann man sie 200 Seemeilen westwärts von den kanarischen Inseln am Horizont sehen, dann leuchtet sie im Meer.“
Man amüsierte sich köstlich über derlei Seemannsgarn und verließ sich im Übrigen auf Don Alonso Pinzon. Der würde schon dafür sorgen, dass die Fahrt zu einem Erfolg wurde. Ihm vertrauten die Männer in Palos, ganz im Gegensatz zum windigen Phantasten Colón. Und weil die Pinzons dabei waren und die Quinteros und die Niños, allesamt angesehene und wohlhabende Seemänner und Kaufleute aus Palos, Moguer und Huelva, meldeten sich plötzlich auch genug Abenteuerlustig. Auch der Alte hatte sich freiwillig melden wollen, er war aber als stadtbekannter Saufkopf nicht angenommen worden.
Auch daher rührte seine Wut auf die reichen Pinzons. Nach einer stummen Pause brach es unvermittelt aus ihm heraus: „Die Idioten! Morgen segeln sie los, diese Schwätzer!“
„Vielleicht gibt’s dabei was zu gewinnen“, sagte zögernd die Mutter.
„Halt’s Maul, du verstehst nichts davon! Nichts gibt’s zu gewinnen!“
Er verdrehte die Augen. Rodrigo hielt er unterdessen immer noch fest am Haarschopf gepackt.
„Es ist für den Tod“, lästerte der Alte weiter. „Von denen wird keiner zurückkommen.“
„Aber wenn doch Don Alonso Pinzon mitfährt“, wagte die Mutter zu widersprechen, „dann ist doch etwas dran, an den Goldländern im Westen?“
„Red kein dummes Zeug! Der Pinzon kann auch nicht alles wissen. Mich kriegt jedenfalls keiner auf sein Schiff.“
„Feigling!“, kommentierte geringschätzig die Mutter.
„Wenn dir was nicht passt, du alte Kotze, dann kannst du ja selber gehen. Für tausend Maravedis. Deinen fetten Arsch könnten sie schon noch brauchen, auf ihrer Fahrt.“ Die Mutter schnaubte verächtlich.
„Irgendwann wird der hochnäsige Don Pinzon gewaltig auf die Schnauze fallen. Der feine Herr mit seinen krummen Geschäften. Er ist ein Ausbeuter und Leuteschinder.“
„Er ist immerhin der angesehenste und reichste Mann der Gegend“, warf die Mutter ein. Sie klang respektlos und wütend, was den jähzornigen alten Säufer aufs Äußerste reizte.
„Der reiche Pinzon ist das größte Aas von ganz Palos“, blaffte er. Dann sprang er auf und umrundete mit stampfenden Schritten den wackligen Tisch: „Das größte Klappermaul von ganz Palos! Arschloch! Arschloch! – Sag es nach!“ Er packte den völlig verschreckten Miguel am Hemd und zerrte ihn zu sich her: „Sag es! Sag es nach!“
„Der rrrr...reiche ...“, stotterte Miguel, wie er immer stotterte. Der Alte brüllte: „Lauter!“
„Der rrr...reiche Don Pinzon ... ist ddd... das größte AAAA... Arschloch von Palos“, stammelte er.
Der Alte hörte gar nicht zu, er schnappte sich bereits den kleinen Pedro und auch der musste es nachsagen.
„Jetzt du“, blaffte er Rodrigo an und redete sich selbst in Rage: „Du bist doch sein Schweinehirte. Du musst es doch ganz besonders wissen.“ Aber Rodrigo zögerte. Don Alonso war sein Dienstherr. Er war reich, klug, mächtig, edel. Nie hatte der Junge ihn anders wahrgenommen. Der Patron verkörperte all das, wovon er träumte. Und da gab es auch noch Don Alonsos zehnjährige Tochter. Die schöne Isabella. Er beobachtete sie oft heimlich, wenn sie im Hof der Casa Pinzon spielte oder mit ihren Schwestern und Dienerinnen Spaziergänge unternahm. Er verehrte sie, träumte und schwärmte von ihr. Sie war seine große, heilige, heimliche Liebe. Konnte er da so abfällig über die Familie Pinzon reden wie der alte Saufbold es verlangte? Das wäre Verrat. Er biss sich auf die Unterlippe und schwieg eisern.
Der Alte stand vor ihm und drückte ihn mit der flachen Hand gegen die Wand: „Du Rotznase! Sprich mir nach, du Strohkopf: Der reiche Don Pinzon ist ein riesengroßes Arschloch!“
Rodrigo presste die Lippen zusammen und schüttelte zaghaft den Kopf. Der Alte in seiner Raserei spürte den Widerstand. In sein Staunen darüber mischte sich grobe Wut: „Wirst du wohl reden, du verlauster Mistkerl. Ich zieh dir die Zunge raus!“
Es folgten zwei klatschende Ohrfeigen. Rodrigo duckte sich, aber dem festen Griff des Säufers konnte er sich nicht entwinden. Der Alte mochte ein Saufkopf sein, aber er verfügte noch über erstaunliche Körperkräfte. „Sag jetzt diesen Satz! Oder muss ich dich erst weichprügeln?“
Rodrigo spürte die ersten Schläge, aber der Gedanke an Isabella ließ ihn trotzig schweigen. Seine Weigerung, diesen einen Satz zu wiederholen, wuchs sich zur Prüfung für die Stärke seiner Liebe aus. Ein Nachgeben kam nicht in Frage.
Der Alte beherrschte die Kunst des Prügelns. Er drosch mit unbändiger Wut auf Rodrigo ein. Damit entlud er die eigenen Frustrationen, reagierte die eigenen Unzulänglichkeiten ab, die eigene Feigheit und Schwäche. Fausthiebe, Fußtritte, Schläge, Hiebe mit dem Stock, harte Schläge mit dem Lederriemen, alles gehörte zum Arsenal des Alten. Rodrigo rollte sich zusammen wie ein Igel, schützte den Kopf zwischen Knien und Ellbogen und erduldete mit zähem Schweigen die Tortur.
Seine Mutter versuchte, das sinnlose Einschlagen zu beenden. „Hör jetzt wieder auf“, sagte sie eher bittend als fordernd. Aber das brachte den Alten noch mehr in Wut und ihr einen brutalen Faustschlag ein, mitten auf den Brustkorb, so dass sie torkelnd quer durch den Raum geschleudert wurde.
„Pinzon ist ein Arschloch! Pinzon ist ein Arschloch!“, brüllte in heißerer Wut der Trunkenbold.
Rodrigo rappelte sich auf. Auf dem Tisch lag das Messer. Ein langer Dolch mit rostiger Schneide und abgebrochener Spitze.
Mit vernebeltem Blick hinter geschwollenen Augenlidern, mit blutiger Nase und aufgeschlagenen Lippen, voller Flecken am ganzen Leib, Rotz und Wasser spuckend, schnappte Rodrigo nach diesem Messer. Es war eine Bewegung: packen, ausholen, ein Satz nach vorne, zustechen. Mit unbändigem Schwung jagte er dem tobenden Alten die Klinge von hinten zwischen die Schulterblätter. Es knirschte, als das Messer an den Knochen abrutschte, dann folgte ein saugendes Geräusch, gefolgt vom Stöhnen des Alten, der den Tisch mit sich zu Boden riss und sich darunter begrub.
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