Sie leben mitten unter den Geschöpfen Gottes, so wie unsere Schatten mitten unter uns leben. Sie bescheren jene Sorte Glück und Unglück, die auf Zufall beruht – und beides hat nichts mit Gott zu tun, der seine Entscheidungen mit Gewissheit und Vernunft trifft und dessen Wille unumstößlich ist; wenn wir geboren werden, sind wir ihm schon unterworfen. Doch die Geister können wir uns unterwerfen. Sie sind unser Kampffeld. Mag sein, dass der Fluss uns Unglück bringt, aber Lewys’ Frau irrt, wenn sie glaubt, dass das Schicksal ihres Mannes vorbestimmt sei. Der Fluss beherbergt diese Geister, sie haben dort ihre Heimat gefunden, weil weiß der Himmel was im Wasser des Stroms vor sich hin fault. Menschen, Kühe, Schafe, Fleischabfälle, Gedärme, Dung. Die enttäuschten Hoffnungen, die wir in unsere zusammengestürzte Brücke setzten. Wenn die beiden Toten des letzten Sommers diese Geister tranken und starben und wenn Newman von ihnen in die Tiefe gezogen wurde und starb, was sollen wir dann tun? Uns ducken? Beten? Sie anbeten und um Gnade bitten, als ob sie die Macht hätten, Gnade zu gewähren?
Ich habe gebetet, aber nicht zu ihnen, sondern zu unserem Herrn. Zwei Gebete, von denen zumindest eines erhört wurde. Am Samstag, als der Leichnam zum ersten Mal im Strom gesehen wurde und Newman nicht nach Hause kam, betete ich um ein Zeichen, ob er in den Himmel gekommen sei. Ein Hemd in den Rohrkolben mag für unseren gottlosen Dekan bedeutungslos sein, aber mir bedeutete es viel, und so sandte ich meinen Dank zum Himmel.
Ich betete auch, dass der Wind von Westen kommen und diese Zusammenballung von Geistern nach Osten, in Richtung Gottes, wehen möge. Der Wind kam über Nacht, doch er kam von Osten, und er war scharf und winterkalt. Vielleicht hatte der Herr nicht das ganze Gebet gehört, beschäftigt, wie er ist; und vielleicht war ich nicht deutlich genug gewesen. Oder vielleicht war ich überdeutlich gewesen und hatte zu viel verlangt. Trotzdem tröste ich meine Gemeinde: Durch seine Gnade stirbt der Aberglaube, und alle Bedürfnisse, alles Verlangen werden von ihm, durch mich, gestillt. Außerdem blieb heute noch genug Zeit, dass der Wind seine Richtung änderte.
Pater, sagten die Stimmen durch das Gitter. Ich habe gesündigt, vergib mir, Pater. Mein linkes Ohr hörte zu. Durch das viele Zuhören war es mit der Zeit schärfer geworden, so wie eine Schulter beim Hacken stark wird. Der Tag hellte Zoll um Zoll auf, und meine Gemeinde kam in immer größerer Zahl, weil es sie nach dem Ablass verlangte, den ich angeboten hatte. Benedicite, Dominus, Confiteor. Möge ich gesegnet sein, möge ich beichten.
Benedicite, Dominus, Confiteor.
Benedicite,
Dominus,
Confiteor.
Pater, ich habe vergessen, zur Messe zu kommen, ich habe vergessen, mein Gebet zu sprechen, ich habe vergessen, mein Schwein zu füttern, ich war grob zu meinem Kind, mir war übel vom Trinken, ich habe auf den Friedhof gepisst, ich bin zornig erwacht, ich habe die Hoffnung verloren, ich war zu stolz, ich war zu schwach, eine Stimme hat mir befohlen, meine verfaulten Zähne zu ziehen, ist es die Stimme eines Dämons oder Gottes? Ich habe masturbiert, aber ich dachte dabei an Gott, ich dachte an Maria Magdalena, ich dachte an Johannes den Täufer, vergib mir.
Irgendwann schlief ich ein, mit einem Kopf, der wie eine reife Frucht von einem spindeldürren Zweig hing. Ich wachte auf und hörte eine Stimme, die von Masturbation sprach, und darüber Lautenmusik, die wie ein Frühlingsschauer in den Altarraum perlte und aus dem Nichts zu kommen schien. Ich setzte mich kerzengerade hin, damit der Schlaf wich. »Versuche, nicht zu masturbieren«, sagte ich, »oder deine Hände verkümmern und fallen ab. Versuche zumindest, nicht an Johannes den Täufer zu denken.« Eine Laute? Newman war der Einzige in der Gemeinde, der die Laute spielte, so, wie er auch der Einzige war, der vor den Heiligenschreinen in Compostela und Jerusalem gebetet und einen Mann gesehen hatte, der Eisenerz aus seinem Kleidersaum schlug. Der Einzige, der in Spanien eine Orange vom Zweig gepflückt und eine Olive gegessen hatte – beide sauer, wie er sagte. Er hatte öfter versucht, mir das Lautenspiel beizubringen, aber meine Finger waren immer klamm, und ich zupfte steif herum. Während andere zum Spielen einen Federkiel benutzten, zupfte Newman mit den Fingern, und zwar mit allen. Deine Finger müssen wie Federn sein, sagte er, aber seine Finger waren keine Federn, sie waren so stark und gelenkig wie kleine Lebewesen. Sie erzeugten einen Klang, der andere mit seiner Weichheit verwirrte; auf einmal schien es ganz leicht zu sein, inmitten all des verstreuten Plunders zu sitzen, der sich Leben nennt – zu leicht.
Aber wie ich dort saß, wurde mir klar, dass gar keine Laute zu hören war und dass der Klang, den ich hörte, mir aus einem Traum gefolgt sein musste – einem Traum von Thomas Newman? Ich erinnerte mich an nichts, und eigentlich hätte ein so kurzer Zipfel verstohlenen Schlafes für einen Traum gar nicht ausgereicht, aber er hatte ausgereicht, um ein starkes Gefühl der Vorahnung in mir zu wecken, ein Gefühl, dass ich etwas tun müsse. Zum Dekan laufen, ihm noch einmal von dem wundersamen Auftauchen von Newmans Hemd erzählen, seinen Verdacht auf Mord zerstreuen. Denn andernfalls wartete etwas Widriges, Unwiderrufliches nur darauf, über uns zu kommen.
Doch plötzlich wurde der Schlitz im Vorhang erneut geöffnet und geschlossen, und jemand kniete auf der anderen Seite der Trennwand nieder. Jemand, der sich leichtfüßig und lässig bewegte, dessen Geruch scharf wie ein Speer war und meiner Nase zusetzte. Ein Junge oder ein junger Mann mit der Aura eines Wolfes.
»Hab Verlangen nach einer Frau gehabt«, sagte er nach einem halbherzigen Glaubensbekenntnis.
»Irgendeiner Frau oder einer bestimmten?«
»Einer bestimmten Frau.«
»Einer verheirateten Frau?«
»Einer frisch verheirateten Frau.«
»Dann weißt du, dass du mit dem Verlangen aufhören musst.«
»Das kann ich nicht einfach so.«
Sein Kopf befand sich am unteren Ende des Gitters, was zweierlei bedeuten konnte: Er war klein oder er kniete nur unwillig. Oder beides.
»Was hast du getan, um es zu schwächen?«
»Was zu schwächen?«
»Das Verlangen.«
»Alles, was man machen soll. Wenn ich mich in die Hand nahm, habe ich sie mir als alte, tote Frau vorgestellt, aus der die Würmer kriechen und der das Fleisch vom Gesicht fault.«
»Hat es geholfen?«
»Ich habe mich dann auch nach ihren Würmern gesehnt.«
»Es wäre besser, wenn du dich nicht in die Hand nehmen würdest.« Sonst verkümmern deine Hände und fallen ab.
»Ich kann nicht anders, Pater. Es drängt mich danach, meine Schenkel auf ihre Schenkel zu legen und mit der Hand über ihren schönen Rücken zu fahren, und das ganze Sehnen und Begehren hält mich von meiner Arbeit ab …«
»Ich sagte schon, denke an etwas anderes.«
»Und jetzt ist sie mit einem schlaffen, alten Knacker von außerhalb verheiratet.«
Normalerweise weiß ich, wer auf der anderen Seite der Trennwand sitzt, aber je mehr er sprach, desto weniger war ich mir sicher. Er gehörte zu den Burschen, die drüben bei den Scheunen Mist schaufeln und die Gräben reinigen, aber von denen gab es viele, und die kamen nicht oft zur Beichte. Ohne ihn zu sehen, konnte ich nicht sagen, wer er war.
»Diese Frau«, sagte ich, »wer ist sie?«
Er zögerte lange und – wenn ich mir das nicht eingebildet habe – betreten. »Niemand von hier«, sagte er.
»Wann hattest du die Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, der nicht von hier ist?«
Er rutschte auf dem Kissen herum und rülpste. Eine kräftige Bierfahne wehte zu mir herüber.
»Woher kommt sie, wenn nicht von hier?«
»Aus …« – eine atemlose Pause – »Bourne.«
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