Wusste der Dekan überhaupt, was Sittenlosigkeit war? Sittenlosigkeit ist, wenn man am Todestag eines Mannes in dessen Haus einzieht, sich mit seiner Seife wäscht, sich mit seiner Klinge rasiert und es sich auf seiner Daunenmatratze bequem macht.
»Als ich im Dorf war, fiel mir auf, dass die Feierlichkeiten in New Cross schon recht ausgelassen sind. Viele Betrunkene. Zu viel vom Muntermacher , was? So nennt man das hier doch, nicht wahr? Engelstrank, Drachenmilch. Und wir haben gerade erst Mittag.« Schnellpisser , dachte ich; so nennt man das bei uns, aber das geht dich gar nichts an. Er sah zu mir hoch, sein Gesichtsausdruck sollte wohl Sympathie und Komplizenschaft signalisieren. »Ja, John, es waren schwierige Tage für Ihre Gemeinde, aber das entschuldigt kein Fehlverhalten.«
Er hatte keine Frage gestellt, also schwieg ich.
»Ich verlasse mich darauf, dass Ihre Gemeinde sich nicht wie die Italiener aufführt, von denen ich sprach. Oder, schlimmer noch, wie die Franzosen.«
Wir hatten das Südtor erreicht, und ich blieb davor stehen. »Ich denke, das wird uns erspart bleiben, die meisten hier haben noch nie eine Orange gesehen«, sagte ich.
Ich umfasste seine Hände und drückte sie sanft, dann ließ ich sie los. Er betrachtete mich beunruhigt: Ich hatte offenbar nicht getan oder gesagt, was ich seiner Meinung nach hätte tun oder sagen sollen. Dann umfasste er mein Gesicht mit den Händen, je eine Hand umschloss liebevoll eine Wange, und sagte: »Jetzt sieh sich einer diese breiten Wangenknochen an, diese erhabene Nase, diese Augen, graubraun wie ein Folterkäfig, rauchig wie ein Scheiterhaufen. Ich würde sagen, in Ihnen steckt auch etwas von einem Franzosen. Darauf müssen wir achtgeben.«
Sein Blick kündete von zaghafter Boshaftigkeit: der Blick eines Menschen, dem die Bösartigkeit der Macht neu ist und der sich ihrer noch nicht mit Gewissheit bedient. Ich blieb stumm, und er presste seine Daumen in die hohlen Stellen hinter meinem Kiefer. Fast an meinem Hals, aber nicht ganz. Weiche Stellen, die selbst ich nie mit den Daumen erspürt hatte. Es war eine Geste von halbherziger Brutalität, und dann sanken seine Arme herab.
»Ich vermute, ich neige zu sehr zum Grübeln, Reve«, sagte er und massierte die Stelle zwischen seinen Augen, wie um die Last all dieser Grübelei zu veranschaulichen. »Einige meiner Überlegungen kann man übergehen, andere nicht, und bei wieder anderen bin ich mir nicht sicher. Wenn zum Beispiel Newmans Leiche drei Tage nach seinem Ertrinken bei West Fields an einem umgestürzten Baum gefunden wird und sein Hemd ein Stück weiter in einem Röhricht, warum ist das Hemd weiter getrieben als der Mann? Wie hat das Hemd sich überhaupt von ihm gelöst? Erreichte es die Stelle zur selben Zeit wie die Leiche, war es mit dem Körper verbunden ? Oder ist es einen Tag, zwei Tage, drei Tage vorher dort angekommen? In diesem Fall wäre es ein seltsamer Zufall, dass beide nur einen Steinwurf voneinander entfernt angespült wurden. Obwohl solche Zufälle natürlich vorkommen.«
Er bewegte sich von mir fort, die Hände hielt er dabei hinter dem Rücken verschränkt, sie schlugen sanft gegen sein Hinterteil in der engen Robe. Er hatte den Dolch seines Argwohns gezückt und wieder in die Scheide zurückgesteckt.
»Newman hat Townshends Land aufgekauft, nicht wahr?«, fragte er und drehte sich wieder zu mir um.
»Wenn ich mich recht erinnere, haben wir darüber schon mehrmals gesprochen, und die Antwort ist Ihnen bekannt.«
»Ich weiß, ich weiß. Ich strapaziere Ihre Geduld. Aber je öfter wir darüber sprechen, desto weniger geht es mir aus dem Kopf. Newman hat … wie viel? … zwei Drittel von Townshends Land gekauft? Newman wurde reicher, Townshend wurde ärmer. Townshend hatte allen Grund, ihm den Tod zu wünschen.«
Er zuckte die Schultern und sah einen Moment beiseite, dann drehte er sich um und schlurfte, in seine zu enge Robe eingewickelt, davon, wobei er mit wedelnden Armen wütend eine Krähe verscheuchte, die ihm nicht einmal im Weg war.
Der Dekan ist ein Mensch, dessen Schuhe zu klein geworden sind und den deshalb die Füße zwacken. Wir haben zurzeit keinen Bischof, der Erzdiakon ist mit anderen Dingen beschäftigt, und so steht er verblüffenderweise an der Spitze des Haufens.
Vor allem haben die Mönche des Klosters in Bruton ihre gierigen Blicke auf Oakham geworfen. Der Dekan hat mich gewarnt, und er ist besorgt. Je mehr es werden, desto mehr Land brauchen sie. Also halten sie Ausschau, aber alles, was sie zu sehen bekommen, sind Schafweiden und kein Ackerland weit und breit. Dann verharrt ihr Blick bei uns, mit Tausenden schafloser, urbarer Furlongs (mehr als jeder andere Ort im Umkreis von hundert Meilen), und sie sehen, dass unsere Gemeinde an ihre grenzt und sie ein gutes Auskommen hätten, wenn sie uns übernähmen und Oakham zu ihrem Gehöft machten.
Hinzu kommt, dass der Bischof im Gefängnis sitzt, weil er versucht hat, einem Prätendenten zur Krone zu verhelfen. Der Dekan meint, dass er es nicht mehr lange machen wird. Der Erzdiakon ist vollauf mit seinen Sorgen beschäftigt und mit all der Arbeit, die der Bischof verrichten würde, wenn er nicht im Gefängnis säße. Wer gibt in diesem Chaos auf uns acht, die wir hier in unserer kleinen Gemeinde zwischen Wald und Fluss leben, mit unserer unbedeutenden Kirche, unseren hundert kleinen Leben und ihren Freuden und Tücken, mit unseren Schweinen, Kühen, Hühnern, unserer Gerste und unserem Holz? Unserer unvollendeten Brücke? Wer hält uns die Mönche vom Hals und die sprichwörtlichen Wölfe? Die Antwort lautet: niemand – niemand außer dem Dekan. Und wie viel Anteil nimmt der? Er muss erst einmal seine eigene Haut retten. Er rennt herum, um dem Erzdiakon Gefälligkeiten zu erweisen, weil er sich davon … ja, was erhofft er sich eigentlich davon? Gunst? Macht? Er verzehrt sich danach, dem Erzdiakon einen Mörder vor die Füße zu legen, wie eine Katze – zitternd vor Stolz – ihrem Herrn einen Vogel bringt.
Zwei Jahre zuvor hatte ich eine Unterhaltung mit Newman. Er erzählte mir damals, dass man in Rom große Kästen eigens zum Beichten baut – Beichtstühle. Man kniet nicht im Dämmerlicht des Kirchenschiffs vor dem Priester nieder, sondern betritt einen zweigeteilten Schrank, mit dem Beichtkind auf der einen und dem Priester auf der anderen Seite. Eine kleine dunkle Kiste . Diese Vorstellung hatte für mich etwas Schönes und Geheimnisvolles. Die Kiste erschien mir wie eine Miniaturkirche, eine Kirche in der Kirche – die Seite des Priesters war der Altarraum, die des Beichtkindes das Kirchenschiff, und die Abschirmung dazwischen trennte die beiden weniger voneinander, als dass sie sie vereinte und miteinander ins Gespräch brachte. Der normale Mensch, durch die Trennwand geschützt, berichtet dem Priester von den Dingen, die er auf der Seele hat, auf dass der Priester sie Gott berichte und ihn dem Himmel näher bringe. Die Trennwand ist kein Hindernis, sondern eine Fläche, auf der sich das heilige Mysterium abspielt.
Eigentlich hätte für uns keine Hoffnung auf eine solche Kiste bestanden. Wäre unser Bischof nicht für den Versuch bestraft worden, die Thronfolge zu ändern, wäre unser Erzdiakon nicht so überaus beschäftigt gewesen, wäre unser Dekan nicht verantwortlich gewesen oder hätte er eine andere Persönlichkeit gehabt – nein, dann gäbe es diese Kiste nicht. Als er, der Dekan, uns vor über einem Jahr zu Winterbeginn besuchte, versuchte ich ihm die Idee schmackhaft zu machen. Die Kirche in der Kirche, die Abschirmung, die nicht trennt, sondern vereint, das Spiel des heiligen Mysteriums et cetera. Er war bestenfalls desinteressiert, schlimmstenfalls wütend. Er murmelte etwas über Italiener und hing wie eine dunkle Regenwolke über meinen Hoffnungen.
Aber der Winter schritt voran. Winter können grausam und gewalttätig sein. Wir haben in jenem Winter viel verloren – Saat an die Flut, Tiere an den Schnee, Männer, Frauen und Kinder an Krankheit und Hunger. Ich tat mein Bestes, so wie alle anderen auch, aber wenn die Zeiten verzweifelt sind, handeln auch die Menschen verzweifelt: Sie stehlen, sie lügen, sie betrügen, sie resignieren, sie gehen nicht zur Messe, sie suchen Zuflucht in fremden Betten.
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