Von dort, und ohne den Dekan zu beachten, der mich ebenfalls ignorierte, machte ich mich auf den Weg nach Old Cross, wo es freilich gar kein Kreuz gab. Newmans erstes Geschenk an die Gemeinde war ein neues Steinkreuz für die nördliche Dorfgrenze gewesen, und seitdem war das alte aus Holz zu einem Stumpf verwittert. Jetzt ragte dort nur noch der Maibaum schräg aus der ausgefahrenen Straße.
Ich sah niemanden außer Piers Kemp, den Müller, der mit seinen Schuhen voller Steine schmerzerfüllt von Newmans Haus herübergehumpelt kam. Es bereitete mir meist keine Freude zu sehen, wie meine Oakhamer ihre Buße taten, und zu wissen, dass die Steine sich auf meine Anweisung in ihren Schuhen befanden. Zu wissen, dass sie auf meinen Wunsch humpelten. Barmherzigkeit kam mir seltsam vor, wenn sie nach außen hin solche unbarmherzigen Formen annahm. Trotzdem hob er die Hand, um mich fröhlich zu grüßen, und sagte, er habe gerade dem Dekan Brot geliefert.
Und da war er, der Maibaum, an dessen Spitze Newmans Hemd hing. Man hatte es mit dem Ärmel festgebunden. In der frischen Brise war es beinahe getrocknet und flatterte lustlos im Wind. Es bauschte und blähte sich, als würde ein Mann darin stecken, der sich in Krämpfen wand. Falls die Dorfbewohner es gesehen hatten, ließen sie es sich nicht anmerken. Mir erschien es als unnötige Grausamkeit, Newmans zerrissenes Hemd zu hissen wie eine Flagge. Der lose Ärmel streckte sich immer wieder aus, als wollte er nach Westen zeigen, auf alles, was böse, glück- und gottlos war. Als ob er uns bedeuten wollte, dass Newman dorthin gegangen sei.
Ein allzu forsches, hastig zusammengestottertes Gebet: Herr, lass den Wind von Westen wehen. Ich weiß, diese Bitte steht mir nicht zu. Aber ich äußere sie trotzdem. Lass den Ärmel ostwärts weisen, auf alles, was gut, glückreich und göttlich ist. Lass den Wind in ihn hineinfahren, ihn öffnen und füllen und ihn (wie ein Herz voller Liebe, wie eine Blume, die sich dem Licht zuwendet), Herr, in deine Richtung weisen.
Ein warmer Sommertag, vier Jahre zuvor. Newman und ich spazierten am Fluss entlang, als ein Mann und zwei Frauen, die neben einem schiefen Karren hergingen, das andere Ufer passierten – Gegenüberlinge nannten wir solche Reisende –, und der Mann zu uns herüberrief: »Wie heißt dieser Ort?«
Newman rief zurück: »Oakham!« Er fügte hinzu: »Wohin geht die Reise?«
»Zuerst Rom, danach Santiago de Compostela, dann, auf dem Heimweg, reisen wir durch Frankreich.«
»Ein langer Weg.«
»Er wäre kürzer, wenn’s in Ihrem Ort eine Brücke gäbe.«
Bald waren sie flussaufwärts hinter den Eichen verschwunden, nach denen unser Dorf benannt ist, und alles, was von ihnen blieb, war eine Spur aus niedergetretenem Gras, das sich bald wieder aufrichtete. Newman bückte sich, um einen schweren alten Eibenast vom Ufer aufzuheben, den er in den Fluss schleuderte. Ich sah zu, wie der Ast flussabwärts schwamm, an den seichten Stellen etwas zögerlich, aber dennoch unaufhaltsam, und ich sprach einen Gedanken aus, der von alten Überlegungen und Gesprächen herrührte, vielleicht auch von unserer trägen Stimmung an jenem heißen Tag und dem Anblick der Reisenden, die so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren.
»Das Holz kehrt nicht zurück«, sagte ich.
Newman stand da, eine Hand in die Seite gestemmt, einen Fuß vorgestellt, und kniff die Augen zusammen.
»Aber die Jahreszeiten kehren wieder, oder?«, fügte ich hinzu. »Sie kehren jedes Jahr wieder. Wir werden überflutet, wir trocknen aus, wir sind durstig, wir haben genug, wir haben nichts, es ist erst Winter, dann Frühling, es kommen Fastenzeit und Karwoche, die Freudenfeuer im Sommer, die Bitttage, Quatember, Fronleichnam. Die Sonne steht hoch, die Sonne steht niedrig, der Weizen ist grün, dann golden, dann weg. Und kein Jahr ist müder als das vorangegangene – hast du das bemerkt? Kein Jahr ist alt oder müde.«
Er sah erst mich an, dann den Fluss, die Wolken, dann wieder mich. »Nein«, sagte er, »das stimmt. Kein Jahr ist alt oder müde.«
»Der Fluss der Zeit – so nennt man das doch, oder?«, sagte ich. »Aber die Zeit ist kein Fluss. Sie kehrt immer wieder zu sich selbst zurück. Der Eibenast im Fluss kommt nie mehr wieder.«
Newman stand so aufrecht und unverrückbar wie eine Birke am Ufer und sah versonnen auf das Wasser des Flusses hinaus. »Die Zeit ist eher ein Kreislauf als ein Fluss«, bemerkte er, wobei ich nicht zu sagen wusste, ob er diese Einsicht gerade erst gewonnen hatte oder schon seit Jahren besaß.
»Ja – ja.«
Und es stimmte. Diese endlose Wassermühle vergehender Tage, diese immer gleiche Abfolge von Jahreszeiten, erschien mir so deutlich erkennbar, als ob die Welt selbst – der Fluss, das Weideland, der Wald, der Himmel – sanft und mütterlich gerundet wäre und als ob wir alle dank dieses endlosen Kreislaufs der Zeit rund und gesund wären.
Damals kam mir der Gedanke, zu ihm zu sagen: Wenn die Zeit eher einem Kreislauf als einem Fluss gleicht, was hält sie dann davon ab, rückwärts zu fließen? Können Räder sich denn nicht vorwärts und rückwärts drehen? Ich sagte nichts dergleichen, weil ich seine Antwort kannte, auf die wiederum ich keine Antwort wusste: Wenn Zeit sich vorwärts und rückwärts bewegen kann, warum brachte Gott dann nicht Newmans Frau und Kind ins Leben zurück? Und ich wollte nichts sagen oder tun, das bei Newman das Gefühl des Verlusts erneut aufbrechen ließ. Es hatte etwas mit der Art und Weise zu tun, wie er jenen Pilgern ein einziges Wort über den Fluss zugerufen hatte, so überzeugt und treu: Oakham! Etwas in diesem Wort ließ ihn mir plötzlich, mit wildem Nachdruck, wie einen Bruder erscheinen: er und ich gemeinsam, die Wächter und Verteidiger dieses Dorfes.
Die Mittagsstunde nahte, und wir standen immer noch da, in nachdenkliches Schweigen versunken, sodass ich versuchte, ihn aus seiner Gedankenverlorenheit herauszuholen und seinen Appetit anzuregen (denn er war ein Mensch, der essen als lästige Notwendigkeit betrachtete, ein Mensch, der, wenn ihm ein dampfender Eintopf serviert wurde, »Essen müssen wir« seufzte und der zwar mit Dankbarkeit, aber ohne Begeisterung aß). »Gehen wir«, sagte ich. »Annie bereitet das Mittagessen für uns.« Brot und Buttermilch, Quark, Honig, Quitten, vielleicht die ersten reifen Feigen.
Aber Newman rührte sich nicht und betrachtete den Fluss so eingehend, als ob es dort ein Spektakel zu sehen gäbe, und so schaute auch ich auf die Szenerie, die seine Vorstellungskraft so stark anregte. Ich wusste sofort, was er sah, da ich in jenem Moment mit seinen Augen schaute. Er beugte sich erneut vor, und diesmal hob er einen Stein auf, den er mit einer ausholenden Bewegung weit über das andere Ufer hinaus schleuderte, wo er sich durch die obersten Blätter einer Eiche fraß und außerhalb unserer Sichtweite zur Erde fiel.
»Dieser Stein ist weiter gereist als die meisten Bewohner unseres Dorfes«, sagte er, und in diesem Zustand brüderlicher Nähe wandte er sich zu mir um und fragte genau das, was ich ihn hatte fragen wollen. »Meinst du, John, dass diese Reisenden mit dem, was sie über eine Brücke sagten, recht hatten?«
»Ich denke schon …«
»Wir könnten eine bauen.«
»Über diesen Fluss.«
»Über genau diesen Fluss.«
»Warum nicht – es ist höchste Zeit.«
»Allerhöchste Zeit.«
»Ja, warum eigentlich nicht.«
Drinnen war es kälter und dunkler als draußen und es roch intensiv nach gebratener Gans. In der Feuerstelle hatte sich ein Haufen kalter Asche gesammelt. Mit Gänsefett bespritzt. Die Leute finden es komisch, dass Annie und ich jede Nacht vor dem Schlafengehen Wasser auf das Feuer schütten, aber ich finde es eher komisch, dass sie es offenbar vorziehen, in ihren Betten zu verbrennen. Wenn die eigene Mutter in den Flammen umgekommen ist, lässt man nie mehr unbefangen das Feuer brennen und geht zu Bett.
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