„Ihr habt doch aufgepasst?“, brachte Ido hervor. „Ihr lasst es ruhig angehen?“
„Sicher. Hast du eine Idee, wer das sein könnte?“
„Für mich sieht das eher nach einem Mann als nach einer Frau aus“, stellte Ido fest, nicht gewillt, mehr von sich zu geben.
„Jap“, erwiderte sein Kollege. „Ein älterer Mann, wenn unsere Software richtig liegt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Kandidat von unserer Liste mit den vier Namen.“
„Welcher von denen?“
„Wir überprüfen das gerade. Das dauert ein bisschen. Ich habe noch kein Team zusammengestellt. Wir tasten uns langsam heran, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Klingt vernünftig. Kann ich das Bild mitnehmen?“
„Bitte. Mach damit, was du willst.“
Sie gaben einander die Hand und gingen wieder getrennter Wege. Als Hans ins Flugzeug nach Stockholm stieg, fühlte er sich etwas angetrunken und musste sich anstrengen, seine Gedanken unter Kontrolle zu halten. Am bemerkenswertesten war vermutlich die Information, dass der Mossad versucht hatte, die Villa via Satellit zu überwachen. Warum? Man missbrauchte doch keinen Satelliten, nur um eine launenhafte Neugierde zu befriedigen. Hans wurde den Verdacht nicht los, dass der gefällige Israeli ihn schon wieder hinters Licht geführt hatte.
Und wer hatte eigentlich von einer Befreiungsaktion gesprochen? Wieso war das Thema plötzlich aufgekommen? Und Idos Reaktion auf das Foto? Einen kurzen Moment lang hatte Hans den Eindruck gewonnen, als wüsste der Israeli, wer der Mann auf dem Bild war, hatte aber aufgrund irgendeiner Anweisung nichts dazu sagen wollen. Stina hatte recht gehabt. Mit dem Austausch von Fakten und Hypothesen ging eine Überprüfung seiner Persönlichkeit und der Säpo einher. Hans nickte ein, noch bevor das Flugzeug seine Reisehöhe erreicht hatte, und erwachte erst wieder, als ihn eine Flugbegleiterin vorsichtig anstupste und ihn bat, seinen Sicherheitsgurt zu schließen, weil die Landung bevorstand.
1. bis 10. März 2012
Noch hatte Ido die Zügel in der Hand, aber Hans beabsichtigte, das zu ändern. Er wollte selbst die Oberhand gewinnen. Aber wie? Welche Dokumente konnte er beschaffen, ohne die ganze Zeit am Haken des Mossads zu hängen? Er rief seinen Kontakt in der Moskauer Botschaft an, stellte ein paar Fragen und bekam sogar die Antworten, die er sich erhofft hatte. Danach kontaktierte er Erik ein weiteres Mal. Sie hatten nichts mehr voneinander gehört, seit Hans mit der Speicherkarte die Sauna verlassen hatte. Hans gab Erik einen neuen Auftrag und vergaß das Ganze augenblicklich wieder.
Ein paar Tage später klingelte sein Handy. Erik war zurück in Schweden und hatte etwas zu berichten.
„Ehrlich Hans, das war ganz schön anstrengend.“
„Erzähl!“
„Ich war beim Stadtteilbüro. Die nennen sich auf Russisch ein bisschen anders, aber Gott sei Dank hat man die Sprache ja irgendwann einmal gelernt. Das Archiv lag gleich dort, im Keller, ein bisschen spooky . Die Rezeptionistin wirkte wie eine Parodie, kaute demonstrativ gelangweilt Kaugummi und schaute kaum auf, als ich hereinkam. Ich habe sie um die archivierten Unterlagen zur X-Straße gebeten, und sie hat mir mit großem Widerwillen gezeigt, wo ich alles finde.“
„Und …?“
„Sie wollte eine Unterschrift von mir, aber ich habe nur etwas Unleserliches hingekritzelt. Dann sind wir zusammen durch ein paar muffige Korridore gelatscht. Sie hat mir eingebläut, nichts mitzunehmen und nichts zu kopieren. Ich habe ihr eine falsche Adresse gegeben, um mich nicht verdächtig zu machen, aber als sie mich alleinließ, habe ich mir die richtige Mappe geschnappt …“
„Und …? Komm zum Punkt, Erik!“
„Sie war leer, Hans. Komplett leer. Ich habe noch ein Beweisfoto gemacht, aber die verdammte Mappe war leer.“
Beim Squashspielen kam er oft auf neue Ideen. Als ob sein Kurzzeitgedächtnis gelöscht und der sich endlose wiederholende Gedankenstrom für einen Moment komplett abgeschaltet würde, während er auf dem kleinen Spielfeld dem Ball hinterherjagte. Anschließend überkam ihn immer eine Ruhe, die Platz für völlig neue Gedanken schaffte. Die Sporthalle lag in der Nähe von Gärdet am Rand der Stockholmer Innenstadt in der Wittstocksgatan, nicht allzu weit von seiner eigenen Wohnung entfernt. Die Anlage war klein und fast in Vergessenheit geraten, mit gerade einmal drei Plätzen. Hans spielte hier schon seit einigen Jahren. Plötzlich drängte sich ihm das Wort Scheideweg auf. Auf der Holzbank im Umkleideraum sitzend, war es auf einmal da.
Gerade befand sich Hans an einem solchen Scheideweg. Er hatte das Foto der leeren Mappe gesehen, das Erik ihm aus Moskau geschickt hatte. Ohne Erklärung, ohne Kommentar hatte Hans es, ein wenig unvorsichtig, an Ido weitergeleitet. Eine leere Mappe, das konnte alles bedeuten – oder nichts. Jetzt konnte er zwei unterschiedliche Wege einschlagen. Lass es gut sein! , besagte das erste Hinweisschild. Das ist eine falsche Fährte. Mach weiter! , stand auf dem anderen Hinweisschild. Du bist da etwas auf der Spur. Vielleicht sogar etwas Großem. Während des Spiels hatte Hans eine neue Nachricht bekommen.
„ Hallo, hier ist wieder JJ von RR Search. Ich habe gute Neuigkeiten! Sie wollen sich hinsetzen und konkrete Bedingungen aushandeln. Rufen Sie mich einfach an, dann erzähle ich mehr. Fantastisch, Hans – meine Glückwünsche! “
Und jetzt das hier! Hätte er ein Faible für künstlich herbeigezogene Interpretationen, könnte er das als ein Zeichen auslegen. Bei der Säpo war er am Ende der Fahnenstange angelangt, aber immerhin war ein neuer, guter Landeplatz bereits in Sicht, und er brauchte den letzten Faden, der ihn hielt, nur noch zu durchtrennen. Dahingegen gab es keinen Grund, an dem dünn gesponnenen Faden aus obskuren Fotos und Intrigen des Mossads festzuhalten. Aber Hans Edelman hatte nichts für die Deutung von Zeichen über. Sein ganzes Leben lang hatte er sich für sein analytisches, methodisches Vorgehen gerühmt, sich voll und ganz und ohne observation bias auf einzelne Fakten und Ereignisse konzentriert. Er war noch nicht bereit, das alles loszulassen. Irgendetwas war im Gange. Aber was? Er meinte, ein Muster zu erkennen. Ein Muster aus Vertuschung, Ausweichen und Täuschung.
Und wieder führte ihn die Spur zurück zum Mossad. Bald würde er gezwungen sein, jemanden bei der Säpo einzuweihen, obwohl es ausgesprochen gute Gründe gab, seine Absichten geheim zu halten. Zum einen lief er Gefahr, abgeschossen zu werden – bildlich gesprochen. Alles, was vom Gewöhnlichen abwich, wurde anhand der damit einhergehenden Risiken bewertet. Die sogenannten Nebeneffekte. Es galt, seinen Job zu machen und nicht aufzufallen. Zum anderen war Hans davon überzeugt, dass die Russen Maulwürfe oder Informanten bei der Stockholmer Säpo hatten. Alles andere hätte ihn überrascht. Daher musste er einen Weg finden, sich mitzuteilen, ohne zu viel Staub aufzuwirbeln, aber gleichzeitig so klare Ansagen zu machen, dass er irgendeine Art go-ahead provozieren konnte. Er fühlte sich besser, rief den Headhunter an und vereinbarte einen Termin für Mitte der kommenden Woche, obwohl er seinen Fall weiterhin verfolgen wollte.
Hans kehrte zurück in sein Dienstzimmer bei der Säpo. Neben das verschwommene Bild des Mannes im Fenster hatte er die Namensliste und das Foto der leeren Mappe geheftet. In einer Ecke klebte ein Davidstern, der Hans vorerst als Symbol für Jerusalem diente und für das ausgesprochen große Interesse des Mossads daran, womit er sich gerade beschäftigte. Der Klingelton seines Handys durchbrach die Stille. Eigentlich hatte Hans vorgehabt, dieses Gespräch selbst zu initiieren, aber als er die bekannte Stimme hörte, musste er feststellen, dass Ido ihm schon wieder zuvorgekommen war. Zu seiner Verwunderung hatte Ido direkt verstanden, was die leere Mappe zu bedeuten hatte.
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