Es regnet schon wochenlang nicht mehr; der Himmel scheint mit etwas schwanger zu gehen: mit einer geheimen Glut. Die Geburt zögert sich hinaus; schrecklich wird die große Glut sein, die der Himmel aus sich herausstoßen, von sich werfen, auf die verdorrte Erde schleudern wird.
Astrids Betäubung gleicht der Verwirrung der Tiere, die kein Wasser finden; der Schwindel, der wie Nebel ihren Kopf umhüllt, der ihren Blick trübt, ihn angestrengt und dunkel erscheinen lässt, verwirrt auch ihre Gedanken. Nur zögernd überschreitet sie jeden Tag mit dem Einkaufsnetz die staubige, im Sonnenlicht schwankende Straße. Alles in der Nähe löst sich in glühenden Wellen auf; nur was in der Weite, in der Ferne wie Signale hingestellt ist – eine weißgestrichene Holzveranda, ein runder Baum mit kühlen Schattennestern –, kann sich den müden Augen mitteilen. Astrid ist beinah blind.
Wenn sie – geschickt tastend – im Haushalt irgendwo anstößt, weil sich manche Gegenstände nicht am erwarteten Ort befinden, und ein mit frisch gewaschenem Salat gefülltes Sieb zu Boden fällt, schreit ihre Schwester Fanny. Astrid hat sich in den langen Jahren, die sie bei Fanny lebt, an die Ecken gewöhnt; ihr Fuß kennt die Schwellen, ihre Hände finden das Besteck in der Schublade, das Obst auf der Fruchtschale, die frischen Servietten im Kasten.
Die Wohnung liegt in goldbraunem Dämmerlicht; die Rollläden sind bis auf einen Spalt heruntergelassen, die Fenster geöffnet. Jeden Morgen um halb sieben bereitet Astrid für sich und Fanny, die arbeiten muss, den Tee. Es ist für sie eine kleine Genugtuung, eine kindische Rache, Fannys Tasse mit dem Teebeutel links auf den Küchentisch zu stellen. Während sie das kochendheiße Wasser zuerst in ihre eigene, auf der rechten Seite stehende Tasse gießt, sagt sie, jedes Wort laut betonend: «Zuerst für mich», und dann, fast erschrocken über ihre Vermessenheit, beinah mit schlechtem Gewissen: «Nachher für Fanny.»
Gestern Nacht hat es sacht geregnet; die schon wieder trockenen Bäume in den Gärten teilen sich das Ereignis lispelnd mit, und Fannys Haar, das dem widerspenstigen Haar junger Mädchen gleicht, ist wild und knistert. Fanny steht «mitten im Leben». Fanny braucht keine Armbanduhr, sie weiß Bescheid, während Astrid immer mühsam das Datum der Zeitung, die sie jeden Morgen aus dem Briefkasten nimmt, liest. Auch der Wetterbericht erregt ihr Interesse, doch sind ihre Augen zu schwach, um ihn zu entziffern, und ein Radio besitzt Fanny nicht. Ganz ohne Besitz aber ist Fanny nicht. Ihr gehört sogar eine Violine, der sie manchmal quäkende Töne entlockt, um «in der Übung zu bleiben». Astrid besitzt nichts, oder beinah nichts; ein Tagebuch aus ihrer Mädchenzeit und einige andere Bücher, die sie nicht mehr lesen kann und die unter den vielen Büchern Fannys versteckt sind.
Der Himmel hat seine Glut irgendwo verschenkt, und der Sommer nimmt seinen Fortgang. An den Nachmittagen, während Astrid mit steifem Rücken auf einem Stuhl in der geradezu leichtsinnig großen, alten Wohnung sitzt, denkt sie sich für ein ungeborenes Kind Namen aus wie eine schwangere Frau: «Norbert, wenn es ein Knabe ist; für ein Mädchen ist Annette ganz hübsch.» Das Kind wäre ihr Besitz, den sie nicht mit Fanny teilte. Wie eine jener Eingeborenen, die sie früher in Filmen oder in Missionsheftchen sah, bände sie es an sich, trüge es immer auf dem Rücken oder auf der Brust und schenkte ihm Atem und Seele und Leben, Sekunde für Sekunde; sein Duft und sein Blühen gäbe ihr Freude. Kein Wind könnte es peitschen, keiner zerpflücken; sie lebte mit ihm in ihrem eigenen Kreis, um den das Schicksal die Nacht wie einen Zaun baut. Sie spürte ihre Erniedrigung nie mehr. So wie ihre Augen nur noch kleine oder ferne Dinge wahrnehmen, die sie bewusst fixiert, während alles Große und nahe Gelegene sich in Nebel auflöst, nimmt sie in Gedanken nur noch das Ungeborene wahr; es wird wichtig wie ihre auf der rechten Seite des Küchentisches stehende Teetasse, in die sie das Wasser zuerst gießt.
Die alte Frau dachte, der Bahnhof gliche einer Kathedrale oder einem Theater, einem Ort jedenfalls, in dem Rituale gefeiert werden. Sie wusste, dass der Bahnhof jeden Morgen gereinigt wurde, doch jetzt war er schmutzig. Sie ging durch den dunklen, kalten Korridor zur Schalterhalle; ein weißblonder Junge trat aus der Herrentoilette mit einer Zahnbürste in der Hand und lächelte sie an – er lächelte wie jemand, der sich vorgenommen hat, einen bestimmten Menschen aus einem bestimmten Grund anzulächeln. Der Junge glich Jonas, ihrem Sohn. Sie hatte den Brief, in dem sie Jonas ihre Ankunft angekündigt hatte, vorgestern in einen Briefkasten in ihrer Straße geworfen. Dort stand, eng an den Kasten gedrückt, ein verwahrlost aussehendes Mädchen. Etwas barsch hatte die alte Frau um Entschuldigung gebeten – nicht, weil es nötig gewesen wäre, dass das Mädchen zur Seite rückte; es war klein, und sie hätte den Brief auch so, über seine Schulter hinweg, einwerfen können, aber sie war misstrauisch und ärgerlich: Was hatte das unglückliche Geschöpf zu kontrollieren? Als die alte Frau dann wegging, drehte sie sich zweimal um und beobachtete das Verhalten des Mädchens, argwöhnte, es würde den Brief vernichten, indem es ein brennendes Zündholz in den Schlitz warf. Herausziehen hätte es ihn mit seinen dicken Fingern nicht können. (Sie vermutete, dass die Finger des jungen Mädchens dick waren; angeschaut hatte sie sie nicht.) Das sonderbare Ding stand wieder nah beim Kasten, ohne sich zu rühren; die alte Frau blieb den ganzen Tag unruhig und machte sich Vorwürfe, dass sie den Brief nicht einige Straßen weiter in einen andern Kasten eingeworfen oder dass sie nicht telefoniert hatte. Aber sie telefonierte ungern, hatte Angst vor Wörtern, die aus weiter Ferne direkt ins Ohr hineingesagt wurden.
Als die alte Frau an der kleinen Station des Ortes, wo Jonas wohnte, aus dem Zug stieg, sah sie, dass ein Junge und ein Mädchen in einem Tümpel zwischen parkierten Autos Fußball spielten; sie lachten, wenn das schmutzige Wasser aufspritzte. Der angetrunkene Chauffeur eines kleinen, gelben Lastwagens schleppte eine Kiste mit leeren Bierflaschen in einen Laden. Ungläubig sah die alte Frau, wie der kleine Lastwagen am Straßenrand zu schaukeln begann; ohne ersichtliche Ursache schaukelte er auf und nieder. Bäume plusterten sich auf wie nasse Vögel. Sorgsam trug die alte Frau den selbstgebackenen Kuchen für den Sohn. Später erschrak sie, weil ein Auto sehr nah und schnell seine Schnauze aus dem Verkehrsstrom bedrohlich gegen sie streckte; seine Bremsen kreischten. Schon von weitem bemerkte sie aber das blaue Haus, das wie ein Kachelofen aussah und wo Jonas sie gewiss erwartete. Das letzte Mal, als sie kam, stand er mit dem Rücken gegen seinen großen Spiegel und betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, den er in der Hand hielt, von hinten. Jonas war schön. Seine vollen Wangen waren für sie der Beweis, dass sie ihn als kleinen Jungen gut gepflegt hatte und jetzt noch über ihn wachte. Jonas war der Prinz, der sie eines Tages erlösen würde aus ihrer armseligen Hässlichkeit.
Vera wohnte seit einem Jahr in einem winzigen, weißen Haus an der Küste; vor ihr war nur der Himmel – ein kleines, totes Blau am Tag, ein Sammetbeutel voll goldener Kugeln in der Nacht – und das Meer; sie deckten die Vergangenheiten, die Vera mit stundenlangem Gekritzel hervorlocken wollte, zu wie Schatten von Riesen.
Veras kleine Tochter trat ins Haus, setzte sich, nachdem sie drei oder vier Butterbote verzehrt hatte, an den Tisch und verfertigte eine ihrer unzähligen Zeichnungen: Am Himmel rollten zwei Sonnen, im Gras stapften eine dickbäuchige, kahle Prinzessin und ein Zwerg.
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