Alles, was man in der Stadt nicht mehr haben wollte, und alles, was erst gründlich ausgekocht, gewaschen, durch die Mangel gedreht, therapiert, mit Medikamenten quasi »chemisch gereinigt« werden musste, bevor man es wieder in die Stadt hineinlassen konnte, war in diesem Stadtteil versammelt. Ort der Ausgrenzung. Ort der Verwandlung. Der Gärung. Der Zersetzung. Der alchemistischen Prozesse. Es roch nach Tod. Oder wie man in Tanners Geburtsstadt sagen würde: es schmeckt nach Tod … Heute wird er das noch mal mit anderen Augen sehen.
In den großen Schulferien arbeitete Tanner einmal in der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage. Er saß mit zwei Männern mittleren Alters Tag für Tag acht Stunden und fünfundvierzig Minuten in dem kleinen Haus. Ihre Aufgabe war es, sämtliche ankommende Fahrzeuge, die Kehricht brachten, aufs Genaueste zu wiegen. Nach dem Abladen wurde das leere Fahrzeug noch einmal gewogen und die drei von der Waage ermittelten mittels einer einfachen Subtraktion das gelieferte Nettokehrichtgewicht.
Einer war natürlich der Chef. Er öffnete am Morgen, wenn’s losging, die Schranke des Werkhofs und senkte sie bei Feierabend. Er, und nur er, grüßte jeden aufs Gelände hereinfahrenden Fahrer und jeden, der das Gelände wieder verließ. Er verfügte über eine breite Palette fein abgestufter stummer Gruß- und Winkformen.
Zum Beispiel grüßte er den Direktor der Kehrichtverbrennungsanlage, der als einziger einen Mercedes fuhr, und zwar selbstverständlich einen schwarzen, mit militärischen Ehren. Zweimal täglich. Der König kommt. Der König geht. Er stand stramm und grüßte mit mathematisch exakt angewinkelter Hand an der Stirn. Bis der König, also der Direktor, außer Sichtweite war. Dabei summte er regelmäßig eine ziemlich rassige Marschmelodie, die der Direktor allerdings nicht hören konnte. Am unteren Ende seines Grußregisters gab es nur noch ein nachlässiges, kaum angedeutetes Nicken. Sichtete er einmal wöchentlich die Frau des Direktors in ihrem roten Mercedes Coupé, hob er begeistert beide Arme und schüttelte seine beiden Hände wie zu einem verrückten Tanz, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war. Sie war einmal Miss Schweiz gewesen und beschäftigte zu hundert Prozent die sexuelle Phantasie sämtlicher Angestellter der städtischen Verbrennungsanlage. Die Arbeiter rissen sich einmal die Woche darum, ihr Auto mitten auf dem Werkhof waschen zu dürfen. Es fehlte nicht viel und sie hätten noch auf Knien – und mit einer Zahnbürste bewaffnet – die Profile der Reifen gereinigt.
Einen wöchentlichen Auftrag allerdings hasste Tanner. Er musste die Rechnung in die Knochensiederei bringen. Und da roch es so fürchterlich nach Verwesung und Tod, dass er anschließend jeweils noch zwei Tage glaubte, den Geruch in der Nase zu haben. Diesen Ort würde Tanner auch nicht für viel Geld noch einmal besuchen wollen.
Er wird also in die Psychiatrische Universitätsklinik gehen. Erstens, um zu sehen, wo sein Großvater bei Ausbruch seiner Krankheit eingeliefert worden war, und zweitens, um ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen. Und vor allem will er noch einmal zu dem sprechenden Busch . Die Sprache des verborgenen Wesens hat ihn neugierig gemacht. Außerdem könnte er vielleicht etwas über die Mörder von Michiko erfahren.
Am Nachmittag wird er im Gartenbad hinter dem großen Fußballstadion baden gehen. Ein weiterer Nostalgieabstecher. Außerdem verspricht der Tag wieder heiß zu werden und heute Abend will er ausgeruht und erfrischt zum Essen mit Martha erscheinen. Falls sie es nicht vergessen hat. Sie will ihn ja deswegen noch anrufen. Tanner beendet sein Frühstück und macht sich auf den Weg zum Theaterbrunnen.
In der Stadt herrscht reges Treiben. Jeder, der kann, macht seine Einkäufe und geschäftlichen Besorgungen am Morgen, solange die Luft noch relativ frisch ist.
Tanner sieht etliche Leute, die immer wieder den Himmel mustern. Tatsächlich hat der blaue Himmel einen ungewohnten Gelbstich. Wäre das Gelb noch ein bisschen intensiver, man hätte Weltuntergangsvisionen. Der Himmel verspricht eine unangenehme Hitze für den Tag und sieht irgendwie kränklich aus. Weit und breit keine Wolken.
Tanner gewöhnt sich nach und nach an die Hitze. In Marokko hatte er sie richtig schätzen gelernt. Ein Gräuel blieben ihm allerdings die feucht-kalten Tage im Winter, denn in seinem Haus gab es keine Heizung. Dafür gab es die unendlichen Variationen der tajines von Khadjia. Und abends legte sie warme Steine in sein Bett, die sie in heißem Wasser erwärmt hatte …
Aber das war lange her und die Erinnerungen an seine Jahre in Marokko erschienen ihm plötzlich nicht wie Erinnerungen an eine Wirklichkeit, sondern an eine geträumte Zeit. Der Rauswurf aus dem Land wie ein unsanftes Wecken …
So hektisch und betriebsam es in den Straßen der Innenstadt zu- und hergeht, so leer und ausgestorben ist die Anlage um den Theaterbrunnen. Die Touristen und die Kiffer schlafen noch. Auch für die Liebespaare ist es noch zu früh. Sie träumen noch von ihrer letzten Liebesnacht. Zumal der Bereich um den Brunnen immer noch abgesperrt ist.
Tanner beschließt, sich nicht direkt dem Busch zu nähern, sondern zuerst eine Weile das auch bei Tageslicht undurchdringlich scheinenden Gestrüpp und dessen Umgebung zu beobachten. Er lässt sich auf einer Bank unweit der Stelle nieder, setzt seine Sonnenbrille auf und wartet.
Die Anlage mit dem großen Brunnenbassin, dessen verspielt heitere Maschinen und Figuren aus polizeilichen Gründen noch nicht in Bewegung sind, erscheint heute Morgen inmitten der Betriebsamkeit der Stadt wie eine Oase der Trägheit und Stille. Ab und zu kommen einzelne Passanten durch die Unterführung, durchqueren die Anlage, ohne den Brunnen oder den still dasitzenden Tanner zu beachten.
Nichts deutet darauf hin, dass jemand in diesem Busch sitzt oder jemals saß. Außerdem ist es ein Rätsel, wie man in dieses undurchdringliche Gestrüpp hineinkommt. Oder wieder herauskommt. Immerhin handelt es sich um eine üppig wuchernde Pflanze mit Dornen. Aber die Stimme gestern Nacht war real. Da ist sich Tanner ganz sicher. Das hat er nicht geträumt, obwohl er oft genug an seiner Wahrnehmung zweifelt. Auch war er nicht betrunken. Der Tod von Michiko, der Anblick ihres hellen, bewegungslosen Leibes mitten im dunklen Wasser, die schnelle und flüchtige Arbeit der Polizei, der Besuch bei Kommissar … pardon, Hauptkommissar Schmid, das alles hat er schließlich auch nicht geträumt. Etwas fällt jetzt auf. Die Vögel …
Vögel fliegen den Busch an, setzen sich auf die Zweige und – verschwinden nach kurzem Zögern dann. Tanner versucht sich zu konzentrieren. Kommen sie auch wieder heraus? Vielleicht auf der von ihm abgewandten Seite des Busches? Denn da, wo sie in den Zweigen verschwinden, kommen sie offensichtlich nicht wieder heraus. Na ja, denkt Tanner, vielleicht haben die Vögel im Busch eine Gipfelkonferenz. Wenn es so ist, dann ist es aber eine sehr stille Konferenz. Man hört nämlich keinen Laut. Meditieren Vögel? In der Gruppe?
Tanner lacht still in sich hinein.
In diesem Moment kommt durch die Unterführung eine gebückt gehende Frau. Sie ist klein und schmal, hält ihren Kopf gesenkt und schleppt einen prall gefüllten, einachsigen Einkaufswagen hinter sich her. Diese Art von Einkaufswagen hatte früher auch Tanners Großmutter benutzt. Jetzt steht sie einen Moment still und atmet tief durch. Ihre grauen Haare sind straff nach hinten gekämmt und in einem kleinen Knoten am Hinterkopf zusammengehalten. Sie trägt trotz der Hitze mehrere dünne Mäntel übereinander und dicke graue Strümpfe. Jetzt setzt sie ihren Weg fort und verschwindet aus Tanners Blickfeld hinter dem Busch. Da sie nicht wieder auftaucht, denkt Tanner, sie müsse schon wieder eine Verschnaufpause machen. In diesem Moment rauscht es in den Zweigen, und ein Schwarm Vögel schwirrt aus dem Inneren des Dickichts. Wie auf Kommando schießen sie heraus in die Freiheit. Im nächsten Augenblick sind sie schon verschwunden. In alle Himmelsrichtungen. Sind sie vom Auftauchen der Frau erschreckt worden? Und wo bleibt sie eigentlich? Tanner beschließt nach einer Weile, näher zum Busch zu gehen. Ohne Hast und so unauffällig wie möglich nähert er sich.
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