Die Antwort ist ein Knurren. Man kann nicht sagen, ob es der Laut eines Menschen oder der eines Tieres ist. Tanner nimmt es als Bestätigung und zieht sich zurück.
Ein seltsamer Wohnort. Mitten in der Stadt und trotzdem unsichtbar. Tanner ist gespannt, was für ein Wesen sich hier sein Nest gebaut hat. Er hat schon Penner und Clochards in Kartonschachteln gesehen, in Abfallcontainern, in ausgebrannten Autos, unter Brücken, in Berge von Zeitungen eingehüllt, in umgestürzten Telefonkabinen. Aber in einem Busch, einem schier undurchdringbaren Gestrüpp … das ist neu. Und wie geht er rein und raus? Das Rätsel wird sich im Tageslicht lösen. Abhauen wird er ja bis morgen nicht. Möglicherweise hat das Wesen im Busch etwas von den nächtlichen Vorgängen beobachtet.
Tanner inspiziert die beiden Stellen, die er in seinem Gedankenspiel vorhin als mögliche Halteorte für das Auto der Verbrecher eruiert hat. Aber er findet nichts. Keinen einzigen Anhaltspunkt.
Enttäuscht und aufgewühlt geht er in Richtung Innenstadt. In Richtung des breiten Stroms. Der Fluss teilt die Stadt in einen größeren, älteren Teil, in dem sich Tanner zur Zeit befindet, der traditionell immer der reichere, gebildete, bürgerliche Teil der Stadt war; und in einen kleineren Teil, auf den früher die Bewohner des größeren Stadtteils naserümpfend hinunterblickten. Nur in dem kleinen Stadtteil war früher das Laster angesiedelt. Heute hat sich alles und jedes auf beide Stadtteile verteilt.
Die Straßen sind wie ausgestorben. Durch die andauernde Hitze der letzten Tage hat die Stadt einen ganz fremden Geruch angenommen. Einen mediterranen goût . Beinahe riecht sie schon wie eine Stadt im Süden. Eine weiße Stadt im Nahen Osten vielleicht. Es ist diese schwer zu definierende Duftmischung aus heiß gewordenem Asphalt, Abgasen, überreifen Früchten, die schon bald vergären, und Abfällen, die zu lange der Tageshitze ausgeliefert waren. Es fehlt nur der Salzgeschmack eines nahe gelegenen Meeres.
Er muss an Michikos Schicksal denken. Er hat sie ja nicht eigentlich kennen gelernt. Er hat bloß ihren makellosen Köper gesehen und ihn einmal kurz berührt. Und dann hat er ihren Schrecken beim Angstschrei ihrer Kollegin gespürt. Da verwandelte sich die unnahbar kühle Schönheit in das kleine Mädchen, das sie hinter der professionellen Maske geblieben war. Ob sie Verwandte in Europa hatte? Dachten sie, ihre Tochter studierte in Europa? Allzu lange konnte Michiko noch nicht als Prostituierte arbeiten, denn sie hatte noch nicht diesen müden, desillusionierten Blick, den alle früher oder später bekommen, die in diesem Milieu arbeiten. Was sie wohl für Träume gehabt hat? Was für Zukunftspläne?
Tanner passiert eine enge Gasse, in der ein übervoller Abfallcontainer eines chinesischen Fast-Food-Restaurants den Weg beinahe versperrt. Wahrscheinlich hat sich seine Bremse gelöst. Um weitergehen zu können, muss Tanner sich zwischen Container und Hauswand hindurchzwängen, den Container sogar etwas beiseite schieben. Sofort raschelt es laut und eine regelrechte Horde fetter Ratten flieht aus dem Küchenabfall ins nächste Kellerloch. Angewidert beschleunigt Tanner seine Schritte. Wenn es noch lange so heiß bleibt, werden die Bewohner dieser Stadt noch einige Überraschungen erleben.
Kurz darauf steht er vor dem Polizeipräsidium. Er fragt nach dem Dienst habenden Kommissar und lässt ihm ausrichten, dass er einige Auskünfte zur Leiche im Brunnen geben könne. Nach telefonischer Rückfrage wird Tanner von einem jungen Bereitschaftspolizisten durch lange Gänge in eine Art Vorraum oder Warteraum geführt. An der Wand hängen Plakate mit steckbrieflich gesuchten Gewaltverbrechern. Die Mehrheit der gesuchten Männer ist aus den drei Osten.
Sagt man hier einfach Osten , dann sind die aus dem Balkan, aus dem ehemaligen Jugoslawien oder die aus der ehemaligen Sowjetunion gemeint.
Mit dem Begriff des Nahen Ostens meint man undifferenziert alle die , die aus dem arabischen Raum kommen. Auch die aus der Türkei. Unter dem schönen Begriff des Fernen Ostens sind die aus Sri Lanka, die Tamilen, aber auch die von der chinesischen und japanischen Mafia gemeint.
Wie beruhigend, Verbrecher kommen aus dem Osten. Selten aus dem Westen. Aus dem Westen kommt das Wetter. Unsere eigenen Verbrecher sitzen ja eher in klimatisierten Räumen, tragen weiße Hemden, dezente Krawatten, fahren große Limousinen, bewohnen Hotelsuiten, haben nicht so böse Gesichter und werden nie auf solchen Plakaten abgebildet.
Was für eine schöne westliche Tradition: Die Gefahr kommt aus dem Osten. Das Irrationale, das Ekstatische, das Fanatische, das Asiatische, die Hunnen, der Ostjude, der Türke, die gelbe Gefahr.
Jetzt reicht es, denkt Tanner. Jetzt sitze ich schon zwanzig Minuten in diesem öden Raum. Und das mitten in der Nacht. Jetzt reicht es.
Tanner geht zur Verbindungstür, die ins Büro des Kommissars führt, und klopft energisch. Als keine Antwort kommt, öffnet er kurz entschlossen die Tür.
Drei Schreibtische sind in dem großen Raum so verteilt, dass jeder möglichst ungestört vom anderen arbeiten kann. Die Luft ist stickig und verbraucht. An der Decke sondern fahle Lampen ein kaltes Licht ab. An den Schreibtischen leuchten die obligaten Schreibtischlampen. In der Ecke steht ein billiger Ventilator, der ratternd die Hitze schön gleichmäßig im Raum verteilt. Cremefarbene Jalousien verschließen den Blick nach draußen. Zwei der Männer haben offenbar bis zu Tanners Eintritt auf den Monitor ihres Computers gestarrt, jetzt blicken sie ihn mit gehässigen Blicken an. Hauptkommissar Schmid sitzt zusammengesunken an seinem leeren Schreibtisch und fixiert die grüne Schreibunterlage. Bevor Tanner seinem Ärger freien Lauf lassen kann, räuspert sich Schmid laut. Dann spricht er schnell und ungehalten. Ohne aufzuschauen.
Sie haben zwar geklopft, aber niemand hat herein gesagt! Oder haben Sie etwas Derartiges gehört? Ich würde vorschlagen …
Ich würde vorschlagen, dass Sie mich jetzt einfach anhören. Sonst kann ich auch wieder gehen. Schließlich habe ich eine Information für Sie . Ich komme freiwillig hierher, mitten in der Nacht, und Sie lassen mich grundlos warten. Das ist nicht besonders höflich. Also, entscheiden Sie sich. Ich kann morgen auch direkt zum zuständigen Staatsanwalt gehen.
Jetzt blickt Schmid endlich von seinem Schreibtisch auf, unsicher, ob er seiner schlechten Laune nachgeben und den Besucher einfach rauswerfen soll. Seine Mitarbeiter erwarten es von ihrem Chef, das spürt er ganz deutlich. Andererseits gibt es etwas an Tanners Auftreten, das Schmid irgendwie beeindruckt. Er weiß nur noch nicht, was es ist. Aber vielleicht hat der nächtliche Störenfried ja doch eine brauchbare Information.
Gut. Entschuldigen Sie, dass ich Sie warten ließ. Natter und Waibel, lasst uns einen Moment allein.
Die Angesprochenen erheben sich zögernd von ihren Stühlen, als ob sie noch nicht so richtig an die Ernsthaftigkeit der Aufforderung glauben. Aber Schmid unterstreicht sie mit einer Geste. Er will seine beiden Mitarbeiter bei dem Gespräch nicht dabeihaben, da er instinktiv spürt, dass Tanner ihm vielleicht intellektuell überlegen sein könnte. Und so eine Situation konnte Schmid noch nie aushalten. Zudem ist es immer von taktischem Vorteil, alleiniger Herr über wichtige Informationen zu sein. Wichtig vor allem für die Karriere, das haben ihn fünfunddreißig Berufsjahre gelehrt. Dass er heute Hauptkommissar ist, und nicht einer seiner Mitarbeiter, hat viel mit wohl überlegter Informationspolitik zu tun. Schmid weiß das. Auch wenn er es nie zugeben würde.
Also, nehmen Sie Platz. Wie ist Ihr Name und was haben Sie mir denn so Wichtiges zu sagen. Um zwei Uhr siebenundzwanzig.
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