Am nächsten Morgen begann ihr Leben dann mit dem Seufzen meines Vaters und seinen Beschimpfungen von Onkel Mamdoh, der das Vermögen der Beytofamilie für sein ungesättigtes Schilfrohr ausgegeben habe, wie Vater den Grund für die Nachtclubbesuche seines Bruders umschrieb.
Mein Vater hatte immer wieder von Onkel Mamdoh erzählt, auch den Gästen in seinem Kebab House. Wenn sein Deutsch nicht ausreichte, musste ich einspringen und für die Gäste, die mein Vater in seinem Laden wie Könige behandelte, die Geschichten vom anstößigen Umgang meines Onkels mit den Barfrauen übersetzen, der meinen Vater in seiner Existenz bedroht hatte. Dass er schuld war, dass mein Vater im Alter von dreiundzwanzig Jahren in die Fremde gehen musste, wo er in ein schwieriges Leben «dazwischen» trat, wie er es ausdrückte – ich glaube, diesen Begriff hatte ein Kunde meines Vaters benutzt, dem er seine Lage geschildert hatte, und Vater hatte ihn übernommen –, hatte der Vater ihm nie verziehen. Er hatte aber Mamdoh vom Kebab House aus in all den Jahren bedingungslos unterstützt. So wollten es die archaischen Gesetze seines Dorfes. Bevor wir jeweils in den Urlaub fuhren, suchte der Vater für sich einen ganzen Tag lang einen billigen Anzug, aber wenn er für Mamdoh einen Anzug kaufte, was zu den Reisevorbereitungen gehörte, ging er in das teuerste Modegeschäft. Mamdoh, der ältere Bruder, war sein hoher Prinz, den er seit je bewunderte. Das begründete mein Vater mit seiner Kultur: dass der Kleine den Großen zu respektieren habe, denn wenn man den Älteren keinen Respekt entgegenbringe, falle eine Gesellschaft auseinander wie ein Kartenhaus und schmelze wie Schnee unter den starken Sonnenstrahlen.
Mamdoh hatte den Erlös aus den Ländereien des Beytolandes, wie mein Vater stolz den Herkunftsort seiner Familie bezeichnete, in den damals noch wenigen Nachtclubs der Hauptstadt ausgegeben, ließ Vater mich sehr oft seinen Gästen im Kebab House in der Bischofstraße übersetzen. Mamdoh, der verwöhnte Bruder, der Wunschsohn, den der allmächtige Gott dem reichen Großvater nach der Geburt von drei Töchtern geschenkt hatte, genoss es, aus dem Nabel der Frauen Schnaps zu trinken. Deshalb liebte er nur die breitesten Frauen, weil ihre Nabel mehr Platz böten, sagte Vater abschätzig. Mamdoh goss Schnaps in dieses ihm wertvolle Loch, das er mit viel Geld gekauft hatte, und trank oder schleckte das bittere Wasser mit der Zunge aus. Es geschah über Jahre immer das Gleiche: Mamdoh verlor Geld im Nachtclub oder auch beim Glücksspiel, und am nächsten Tag kam der Gläubiger zu meinem Großvater Beyto. Dieser wollte in niemandes Schuld stehen, weder eines Zuhälters noch eines Nachtclubbesitzers, die er als minderwertig betrachtete, verkaufte einen Acker und beglich die Schulden. Er schlug seinen Sohn nicht, wie man im Dorf erwartet hätte, weil dieser sein erster, nach langer Zeit von Gott ins Haus geschickter Sohn war. Mit dem Spruch, Mamdoh sei sein Augapfel, musste er sich jeweils getröstet haben. Das ging so weiter, bis alle fruchtbaren Ländereien des Großvaters, der nicht wenig Tränen vergossen haben soll, den Besitzer gewechselt hatten. Als Mamdoh alles verspielt hatte, aber sein Auto nicht verkaufte, mit dem er weiterhin in die Hauptstadt fuhr, schickte mein Großvater seinen zweiten Sohn, also meinen Vater, zu seinem ehemaligen Hirten ins Land der Heiden zum Arbeiten, damit die Familie wenigstens ein Einkommen habe. Mein Vater unterstützte seither die ganze Familie. Mamdoh hörte mit dem Schnapstrinken aus Frauennabellöchern auf, allerdings erst, als seinen vier Töchtern Brüste wuchsen, wie meine Mutter sein verändertes Verhalten begründete.
Die Autofahrt wollte nicht enden. Mein Herz klopfte stark, wie ich all die Straßenbilder wahrnahm: So war der Laderaum eines Lastwagens voll mit Menschen beladen, die stehend fuhren. Nur die Haare der Männer und die farbigen Tücher auf den Köpfen der Frauen, die im starken Fahrtwind flatterten, ragten über den Rand hinaus. Hinten war der Wagen offen. Einige der Männer trugen sogar Kinder auf den Armen, der Wind blies ihnen die langen Haare in die Augen. Mein Onkel schüttelte verurteilend den Kopf, zeigte mit dem Finger auf die Leute auf dem Lastwagen und sagte mit gedämpfter Stimme, dass diese Männer Arbeiter seien, von weit her aus ärmlichen Regionen kämen, um hier mit der ganzen Familie auf den Kümmelfeldern zu arbeiten. Dass die Verkehrspolizei nicht eingreife, sei eine Schande, es bestehe die Gefahr, dass solche Transporte einen Unfall verursachten, vielleicht werde man schon am Abend im Fernsehen sehen können, wie viele von diesen Leuten aus dem Wagen wie Bälle heruntergerollt und ihre Köpfe wie Melonen zertrümmert worden seien.
Allmählich verstummten meine Eltern und der Onkel. Meine Mutter döste neben mir, ich hielt weiterhin ihre Hand, hörte ihr leises Schnarchen. Onkel Mamdohs Augen im Spiegel hatten sich verkleinert. Mein Vater war am Rechnen auf der Zigarettenschachtel, ich wusste nicht, was. Um mir die Zeit zu vertreiben, schrieb ich die ganze Zeit SMS an Manuel, die ich nicht schicken konnte, weil ich keinen Empfang mehr hatte. Meine Bisswunde brannte, ich konnte sie aber nicht mit Salbe oder Spray behandeln. Es hätte einen Aufruhr geben können, wenn mein Onkel diese Wunde gesehen hätte. Ich biss auf die Zähne, schloss die Augen und ließ den Vorabend wie einen Film in meinem Kopf ablaufen. Es war ein schönes Gefühl, Manuel in mir zu fühlen auf dieser Reise, die unendlich sein konnte, wie ich von den früheren Reisen her wusste.
Onkel Mamdoh hielt abrupt bei einer Raststätte an. Auch meine Mutter erwachte durch sein starkes Bremsen. Bevor er das Auto verließ, sagte er, halb gähnend und sich streckend, dass es Zeit zum Gebet sei. Dass Mamdoh vom Gebet sprach, war für uns alle eine kleine Sensation, sogar ich wurde hellwach. Meine Eltern schauten ihn mit großen, fragenden Augen an, sie blieben so stumm, als hätten sie ihre Zunge verschluckt. Mamdoh sagte, wir könnten in dem Restaurant auch etwas essen, bis er sein Gebet verrichtet habe. Mein Vater gab sofort seiner Freude auf die Suppe mit weißen Bohnen, die er vermisst habe, Ausdruck. Wir blieben im Auto und schauten Mamdoh nach, bis er in den Hof der kleinen Moschee mit einem runden Dach wie ein Flaschenhals und einem großen Minarett verschwand. Die blaue Farbe der Moschee war so intensiv, als hätte man aus Eimern Farbe auf die Wändegegossen. Meine Mutter flüsterte, während sie ihre Haare mit einer Spange festband, dass Mamdoh früher sogar bei Tauben nachgeschaut habe, ob diese nun weiblich oder männlich seien, er sei der Weiblichkeit so sehr erlegen gewesen, und heute würde er aus sich einen frommen Menschen machen. Offenbar hätten die Jahre ihn verändert. Mein Vater gähnte, lachte dann schallend, meine Mutter müsse ihren Schwager jetzt als reifen Schwiegervater, nicht mehr als den konfusen Frauenheld sehen. Er müsse sich aber für seine Sünde, für viele Frauen ein Ehrbeschmutzer gewesen zu sein, beim Allmächtigen eine Amnestie erbitten. Meine Mutter schüttelte den Kopf, sie sagte, es fehle nur noch, dass er sich einen langen Bart wachsen lasse, die Pilgerreise mache und sich in Mekka für seine Sünden entschuldige. Wir stiegen aus.
Der warme Wind der Steppe blies uns den bitteren Dieselgeruch von den vielen Lastwagen auf der Straße in die Nase. Während meine Eltern vor dem Souvenirladen müde wirkend herumstanden, verweilte ich beim kleinen Verkaufsstand vor dem Restaurant und unterhielt mich mit dem gesprächigen Jungen, der an dem kleinen Holzstand Gurken verkaufte. Ich zeigte auf eine Gurke, die ich essen wollte, er schälte sie mit einem Sackmesser, in dessen Holzgriff er seinen Namen eingeritzt hatte. Er machte seine Arbeit so kunstvoll, dass sie mir Lust auf mehr machte. Ich bestellte noch zwei Gurken für meine Eltern. Der Junge redete wie ein Wasserfall und erzählte unter anderem, dass er bald ins Militär müsse. Aber vorher wolle er ein Mädchen, eine Tochter seines Onkels, heiraten, die Familie wolle ihm das Mädchen jedoch nicht geben, weil seine Familie arm sei. Man habe gesagt, ein Gurkenschäler könne keine Frau ernähren, lachte er noch. Er wolle aber, und bei diesen Worten schaute er in meine Richtung, seine Liebe genießen, bevor er ins Militär gehe, denn es bestehe die Gefahr, dass er nicht zurückkomme, weil im Land immer noch ein Krieg tobe. Dann müsse es eine Frau geben, die, sein letztgetragenes Hemd in der Hand, auf seinem Grab weine.
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