Der Priester hatte fluchtartig das Weite gesucht und das Viatikum mit allem Drum und Dran zurückgelassen. Und zwei knisternde Kerzen.
Meine Onkel, einer hagerer als der andere, haben mich zum Jäger gemacht. Die wichtigsten Erziehungsziele für einen jungen Mann seien die Kunst des Erzählens und die Jagd, mithin «ein Redner von Worten und ein Täter von Taten» zu werden.
Homer zitierten meine Onkel immer in der Sprache des Nordens, deutsch, so wie andere Jäger das Jagdgesetz auswendig hersagten, auch immer deutsch. Romanisch ist unsere Sprache des Fleisches, Deutsch aber jene des Geistes.
Mein Vater, behaupteten sie (und das war der einzige Moment, wo sie im selben Moment dieselbe Meinung über meinen Vater hatten), mein Vater sei auf der Jagd erschossen worden. An einem Nebeltag, im Schneetreiben. In den Felsen des Punteglias.
Ich habe nie an dieses Bild geglaubt. Der Vater meiner Fantasie war in einem Duell umgekommen, in welchem beide Duellanten Poeten waren, im selben Augenblick gezogen hatten und, jeder mit einem Schuss im Bauch, gegeneinander gestürzt waren.
Bestenfalls hat man ihn mausetot gefunden, Schirm zu, einen Schuss im Bauch, einen Schneehasen am Rucksack. Dies ist das erste und letzte Bild, das ich von diesem Vater habe: Kalt, erfroren, starr und steif im Schneetreiben der Glarner Bise. Achttagebart, die Augen offen, die Hände zu Fäusten geballt, daneben das geladene Gewehr, am Rücken den Rucksack mit dem Loch, wo die Kugel ausgetreten war. Das ist mein erster Vater gewesen. Er ist gestorben, bevor ich auf die Welt kam. Ein Mann, der zweimal begraben wurde, das erste Mal ganz sachte vom Schnee und dann, für immer, in der Erde. Ich bin ein Sohn mit zwei Ziehvätern und zwei Schutzengeln. Meine beiden Väter waren meine zwei Onkel, und meine Engel waren Gabriel und Asrael.
Seit diesem Unglück ist meine Sippe nicht mehr am Punteglias auf die Jagd gegangen. Einerseits rechnet der Bergler immer mit dem Tod in den Felsen, anderseits hofft er, dass er nicht komme; bedeutet er doch immer eine Niederlage, die besagt, dass man mit dem Gelände nicht zurechtgekommen sei. Mein Vater war dem Glaruner nicht gewachsen gewesen, wie sie auf der andern Talseite jenen Biswind nennen, der bei uns aura sut und zuhinterst im Lugnez aura dado heißt. Wenn du mit diesem Nordwind nicht vertraut bist, bist du verloren. Warum hatte mein Vater den Glaruner verkannt? Wenn ein Schuss fällt, ist der Wind ein wichtiger Faktor. Leichter Seitenwind von nur 7 m/s lenkt auf eine Distanz von 160 m die Kugel um 20 cm ab. Für den Wind ists demnach ein Kinderspiel, einen Schuss zu verpfuschen. Wohin soll ein Schütze im Sturmwind halten? Stürmt es von rechts, von links oder von beiden Seiten? Du musst es in jeder Situation so einrichten, dass du den Wind auf deiner Seite hast. Sonst wehe dir.
Als mein Vater erledigt war, wechselten meine Onkel für die Jagd auf die andere Talseite. Wenn deine Sippe den Berg, den Wind nicht auf ihrer Seite hat, musst du weichen. Sie haben andere Berge, andere Winde gesucht, gingen fortan dort auf die Jagd, wo die alten Karten ein Gebiet zeigen, das von Bergen rundum wie von einem Zaun umgeben ist und wo im Zaun die Worte stehen: «Hier sind lauter Eisberge, Gletscher gena
t, dahin noch kein Mensch geko
en.»
Das war – wie der Dichter zu sagen pflegt – zu Zeiten, als die Welt noch so jung war, dass viele Dinge keinen Namen hatten und man, um sie zu benennen, mit dem Finger auf sie zeigen musste. Als das Eis zu schmelzen begann und nach und nach Menschen in diese verlassene Gegend kamen, viele Menschen, ließen meine Onkel in den Ring von Bergen schreiben: There Be Dragons Here, und als das nichts nützte, machten sie wenigstens einen Zaun um ihre Hütte und schrieben darauf: Warnung vor dem Hund. Das hat genützt.
Alle Menschen sind voll von Geschichten. Aus den einen sprudeln sie wie Wasser aus der Quelle, aus den andern muss man sie hervorlocken wie die Grillen, die man mit einem Grashalm aus ihren Löchern kitzelt. Die Zwillinge waren so schräg, dass all ihre Geschichten schief waren. Aber, meinten sie, was nützen schiefe Geschichten, wenn bloß senkrechte Quadratschädel zuhören?
Punkto Geschichten redeten die Zwillinge feierlich der Illusion das Wort: «Die Leute, dieses Pack, wissen immer alles besser. Sie wollen nicht, dass du erzählst, wie es gewesen ist, sondern wie sie möchten, dass es gewesen sei. Die Wahrheit hat kurze Beine. Wenn du die Wahrheit erzählst, glaubt dir keiner. Ja, Tolstoi, dieser Arnaut» – Arnaut war ihr Lieblingsschimpfwort, wenn sie grantig waren – «Tolstoi sagt sogar: Wenn du die Wahrheit erzählst, werden sie sagen, du seist selber schuld, dass du nicht das erlebt hast, was Erzähler üblicherweise erleben müssen.» Dann kratzten sie sich am Kinn und fuhren fort: «Was für eine armselige Geschichte wäre die Kreuzigung Christi nach der Wahrheit statt nach den Evangelien: Reine römische Routine, reine Routine, mein Bester.»
Als ich wegen der halbwahren Geschichten in Settembrini – einen Levy – drang, rückte er zögerlich mit der folgenden heraus:
«Als Hallgrímur Pétursson, der isländische Dichterpfarrer, der auch über Zauberkräfte verfügte, einmal während der Predigt durch das Fenster einen Fuchs erblickte, welcher einem Schaf nachstellte, dichtete er einen Vierzeiler gegen Reineke, der sogleich tot umfiel. Da der Pastor durch seine Zauberei das Gotteshaus entweiht hatte, wurde ihm die Dichtergabe genommen, die er erst wieder zurückerlangte, als er sich entschloss, zur Ehre Gottes seine berühmten ‹Passionspsalmen› zu verfassen.»
Hingerissen von dieser Geschichte, wollte ich Lappi natürlich nicht, dass sie schon zu Ende sei. Wie ein Kind, das nicht weiß, wie gefährlich die Wahrheit einer Geschichte werden kann, fragte ich: «Und dann?» Der Fuchs, setzte mein Onkel Levy hinzu, sei beileibe nicht grundlos gestorben. Die Passionspsalmen, das populärste Buch der isländischen Literatur, seien antisemitisch. Mithin eine Warnung für alle Blauäugigen, dass auch halbe Geschichten keineswegs sauber sein müssten, und vor allem ein sprechendes Exempel dafür, wie fein der Satan seine Fäden spinne.
Jede Familie, die etwas auf sich hält, fabriziert Geschichten und Legenden, die in der Verwandtschaft kursieren. Ich hatte meine Vorbehalte gegen die Geschichte vom Leben und Sterben meines Vaters. Die Zwillinge ersannen Geschichten nach ihrem Ebenbild. Sie erzählten nicht einfach, wie es gewesen war, sondern wie es hätte sein müssen. In der Variante meiner Onkel war mein Vater als Wilderer erschossen worden, in der offiziellen Variante als Wildhüter. Für unsere Familie wäre es eine Katastrophe gewesen, auf immer und ewig einen Wildhüter in der Familie zu wissen, einen Polizisten. Ein Wilderer Levy, der zum Landjäger geworden war, musste wieder zum Wilderer werden. So war der Kreis geschlossen und die Sippenehre gerettet. Denn unsere Familie war aus Italien gekommen, wie die Steinböcke. Sie glaubte, anders als die Einheimischen, nicht an Autoritäten. Erledigte die Autorität zur Not auch mit der Fantasie.
II DIE ZWILLINGE
Als der eine geboren war, wollte der Vater ihm den Namen Jeremias geben, indes der Großvater meinte, David klinge majestätisch. Aber die Mutter war für Gion Battesta, so wie der Vater hieß und wie es Brauch war. Und die andern fügten sich. Als sie sahen, dass es Zwillinge gab, kamen sie auf die Idee, den einen Gion und den andern Battesta zu nennen. Aber für die Mutter war Gion Battesta eine einzige Person, folglich bekam der zweite den gigantischen Namen Gion Evangelist Silvester. Sie glichen sich wie ein Ei dem andern, waren ein Mensch in zwei Personen, und nur die Mutter wusste, wer wer war.
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