Ich komme zwar aus einer Familie von Jägern und Wilderern, die sich nie einen Deut um Geweihe, Gehörne, Krucken, Jahrringe, Enden, Rosen und Kronen gekümmert haben. Es waren Jäger, die töteten, um zu essen. Jäger, die Wild verzehrten. Alle Jäger stammen ursprünglich aus solchen Familien. Früher gab es hier nur Bauern und eine Handvoll Handwerker, die alle auch ein wenig Landwirtschaft betrieben und leidenschaftlich dem Wild nachstellten. In unserer Sippe bedeuten Gehörne und Geweihe bis heute nichts und landen bestenfalls im Maiensäß über der Stube unterm Dachgebälk. Ich bin der einzige, der Hörner auf Brettchen schraubt und an die Wand hängt.
Das mit den Hörnern sei importiert, pflegte mein Onkel Gion Battesta zu sagen. Das Importierte habe nicht nur die Jagd verdorben, sondern auch den Bündner Schlag. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, sagte er: «Der Bündner Schlag war vor der Vermischung mit den Fremden ein robuster Männertyp, ein wenig wie die Rütli-Eidgenossen, breiter Nacken, kurze Beine, dazwischen ein stämmiger Rumpf, je behaarter desto besser, typische Fleischesser und wasserscheu. Die Stirn niedrig, insistent, der Blick stechend, prüfend, ausweichend. Die Ohren schief, die Zähne lückig. Aber das ist viele Jahre her», sagte er mit dem Ernst eines Beichtigers. Mein Onkel Battesta meinte die Zeit, als es noch Leute gab, die ihr Lebtag nie gebadet hatten und doch auch sauber waren. Man sah seinen Brauen an, wie er sich einen dieser Alten aus vergangenen Tagen in einem modernen Spital vorstellte, und wie eine Schwester es anstellen würde, ihn in eine Badewanne zu bugsieren. Eine Krankenschwester, die einem solchen Unglücklichen, der noch nie Wasser gesehen hatte, wie ein weißer Würgeengel vorkommen müsste.
In die Jagdtheorie wurde ich vom Kanton eingeführt, in die Praxis von Onkel Battesta Levy und seinem Zwillingsbruder. Alle beide waren sie hagere Jäger und Strahler, zäh wie Zangen, sehnig wie Grauvieh. Echte Bergler haben kurze Ohren und sind schmal und klein, wie man oft aus ihren Namen ersehen kann (Placi Pign, Testa Pign, Gian Marchet, Andrea Picenoni-Pignet, Gianin Sunaderin, Gian Miotin).
Die Zwillinge waren große Jäger vor dem Herrn, und wenn sie nicht auf der Jagd waren, fabulierten sie. Eigentlich waren sie Brüder meines Großvaters väterlicherseits und darum keine richtigen Onkel. Onkel wurde früher als Begriff nicht so eng gebraucht wie heute. Onkel zweiten und dritten Grades wurden auch Onkel genannt, genauso wie nicht verwandte Männer, die der Familie nahestanden. Die Großmutter sagte nie aug, Onkel, sondern immer nur auBattesta , auToni , und erst in der Schule habe ich gelernt, dass man aug mit einem c sage und mit einem g schreibe.
Diese Onkel nannten mich nicht nevs, Neffe, sondern navun. Dieses Wort habe ich nur von ihnen gehört, und ich war stolz, als einziger so genannt zu werden. Navun klang archaisch wie babun, Ahne, bloß dass babun sofort alt riecht wie schimmliges Brot, während navun jäh herauskommt – panf –, unerwartet, so wie der antike Gott Pan plötzlich hinter einem Baumstrunk dasteht.
«Am Anfang ist das Gesetz, werden sie euch sagen, wenn ihr die Prüfung macht. Ich sage: Am Anfang ist Diogenes Laertius I, 58:
‹Die Gesetze gleichen den Spinngeweben; denn fällt etwas Leichtes und Schwaches hinein, so wird es festgehalten, wenn aber etwas Größeres, dann schlägt es durch und kommt heil davon.›
Sie sollen aufhören, euch solche Sachen auswendig lernen zu lassen für die Katz. ‹Dem Kanton stehen im Rahmen des Bundesrechts das Jagdregal und das Verfügungsrecht›, und das Verfügungsrecht ..., ‹das Verfügungsrecht über die wildlebenden Säugetiere und Vögel zu ...›, so ein Schmarren, der einen die Wände hochgehen und nicht mehr runterkommen lässt. Hat irgendeiner irgendwann an so etwas gedacht, bevor er ein Tier geschossen hat?»
Und Onkel Battesta, der ein großer Erzähler war, ließ das Jagdgesetz fallen und erzählte, während er die Felswand gegenüber der Hütte abspiegelte, von Leben und Meinungen der Titanen, ließ unsere Technokraten nach ihrem Gusto Gesetze erfinden und Jagdbanngebiete definieren, lachte verstohlen und wartete geduldig, bis der Nebel kam und den Vorhang zog.
«Das Gesetz sind wir. Lass die da unten glauben, sie seien das Gesetz, warte, bis der Nebel dicht genug ist, und denk an Diogenes Laertius.»
Die Prüfung oder Wie der Kandidat den Experten schockiert und den Jagdinspektor beeindruckt hat, indem er die Geschichte vom Gramm, das durch einen leisen Fingerdruck zu tausend Kubikzentimetern wird, weiterspann.
Der Experte fragte deutsch. Der Kandidat antwortete in seiner Sprache. Der Experte saß wie auf Kohlen. Der Inspektor stand Kopf.
Experte: «Was ist der Drall?»
Kandidat: «Il tuorn ei la rotaziun d’in projectil entuorn igl agen ischel ... ist die Rotation eines Projektils um die eigene Achse.»
«Was bewirkt der Drall?»
«Il tuorn stabilisescha il projectil en sia via da pli tard ... stabilisiert das Projektil auf seiner späteren Bahn durch die Rotation der Kugel um sich selbst.»
«Was ist die günstigste Einschießentfernung GEE?»
«La distanza ... bei welcher das Projektil einer Waffe die Visierlinie zum zweiten Mal schneidet, ohne von dieser irgendwo mehr als vier Zentimeter abzuweichen.»
«Was bezeichnet man als Freiflug eines Geschosses?»
«... den Weg von 5–10 mm vom Verlassen der Hülse bis zum Eindringen in den gezogenen Lauf, oder genauer: den Weg, den das Projektil ohne Rotation zurücklegt, weil es die Hülse verlassen hat, ohne schon von den Zügen des Laufs erfasst zu sein.»
«Bei der Explosion setzt sich ein Gramm Nitrocellulosepulver in wie viele Kubikzentimeter Gas um?»
«Ein Gramm Nitrocellulosepulver verwandelt sich in tausend Kubikzentimeter Gas.»
Der Experte schaut mich über seine Brille hinweg an, als ob er noch etwas erwarte. Ich darauf:
«Das ist die Verwandlung von Gramm in Kubikzentimeter, von Pulver in Gas, von Stille in Knall, mit dem Resultat: Tier, du bist Leben und wirst Kadaver.»
Und er schaute, und ich fuhr fort:
«... die radikale Veränderung, die in der Glückseligkeit des Jägers gipfelt. Diese manifestiert sich im ‹Juhui›, von dem er selber nicht weiß, ob es nun der Orgasmus oder die Impotenz des Mannes ist, der Leben ausgelöscht hat.»
Mein Experte schaute mich an, als ob ich Hörner hätte, 27 Zentimeter oder länger, schaute dann hinüber zum Gastexperten aus Chur, dem Jagdinspektor höchstpersönlich. Der tat, als ob er Romanisch verstehe, verstand aber, wie man aus seinen Reaktionen ersah, nichts. Mein Experte hüstelte, froh, dass der Guru aus Chur staunte, wohl beeindruckt vom Tempo meiner Antworten, die kamen wie aus der Pistole geschossen. Er fuhr fort:
«Was geschieht mit dem Projektil durch den Gasdruck?»
«Il projectil vegn sfurzaus da suandar il tuorn dallas ragadas», antwortete ich und setzte keck, aus Mitgefühl für den Inspektor und damit der zum Schluss auch noch ein Erfolgserlebnis habe, die deutsche Übersetzung hinzu: «Das Projektil wird gezwungen, dem Drall der Züge zu folgen.» Dass dies die letzte Frage zur Ballistik gewesen war, hatte ich dem Gesicht des Experten angesehen, da ich schon durch mancherlei Prüfungen gegangen war und wusste, wie der Hase lief.
Im nächsten Raum saß der nächste Experte in einem frischen, grünen Hemd. Unterm Kantonswappen auf den Achseln stand deutsch: «Wildhüter». Dieser Mann, die Brille zuäußerst auf der Nasenspitze, machte sich noch Notizen zum vorigen Kandidaten, hieß mich Platz nehmen und fragte, ohne aufzuschauen:
«Worauf hat der Jäger unmittelbar nach dem Schuss auf Wild zu achten?»
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