Auch die Freundschaft mit Familie Gale erneuerte Lienhard nach seiner Rückkehr, und nicht ganz ohne Wehmut erinnert er sich an einen seiner letzten Besuche dort: «Die Mariet und ich ritten per Pferden durch den Sugar Kreek Wald, um irgend einen Auftrag von Mr. Gale an Squire Tomkins zu verrichten, welcher an der anderen Seite des Waldes am Saume der Shoalkreek Prairie wohnte. Wären damals meine Vermögensverhältnisse in solchem Zustande gewesen, dass ich im Stande gewesen wäre, eine Frau und folglich eine Familie zu ernähren, so würde es zwischen uns zu einer sichern Erklärung gekommen sein, und ich bedauerte aufrichtig, dass nur die nöthigen Mittel dazu fehlten. Denn ich liebte dieses Mädchen nicht nur aufrichtig, sondern ich hatte grosse Achtung vor ihrem guten Charakter, vor ihrem angenehmen Wesen und von ihrer Tüchtigkeit, eine Haushaltung zu führen. Dass ich die von mir gewünschten Mittel damals nicht besass, meinte Miss Gale, könnte am Ende kein positiver Grund sein, dass zwei sich liebende Personen [sich] nicht verbinden sollten. Sie gab mir als Beispiel ein junger benachbarter Amerikaner, welcher nicht einmal das Geld hatte, den gesetzlichen Erlaubnissschein zu bezahlen, sondern dieses zu dem Zwecke habe borgen müssen. Durch Fleiss und treues Zusammenhalten könne gar viel verrichtet werden. Ich meinerseits hatte wirklich nicht so viel Selbvertrauen, denn zwei Jahre hintereinander war ich krank mit diesem bösen galligen Fieber, und war ich sicher, ob ich nicht noch viel mehr an Krankheiten zu leiden haben würde? Und wie würde ich da im Stande sein, eine Familie zu erhalten? Der Gedanke, dass ich durch Krankheit in Verhältnisse kommen könnte, wodurch ich nicht nur eine Frau nicht erhalten [könnte], sondern eine Frau mich erhalten müsste, war mir Unausstehlich und auch Entscheidend gegen meine Wünsche. Nur eine schwache Hoffnung hegte ich: dass es mir vielleicht doch bald gelinge, eine gewisse Unabhängigkeit zu erlangen, dann meine alte Liebe zu erneuern, und sollte diese Person noch ledig sein, sie dann um ihre Hand zu fragen.
Wie man spähter finden wird, wurden meine vermögens Verhältnisse allmälig besser. Aber da ich keinen Briefwechsel mit den Gales unterhielt und nur durch andere Personen Erkundigungen über sie einzog ohne ihr Wissen, mag die Miss Gale zu dem Gedanken gekommen sein, dass ich sie schon lange vergessen habe, und so gab sie ihre Hand einem Andern. Diese Nachricht erhielt ich kurze [Zeit] vorher, als ich mein Ziel bald erreicht zu haben glaubte. Es gibt halt auf der Welt kein vollkommenes Glück – diese Erfahrung wurde mir wie jedem Menschen zutheil!» 153
Im Oktober fuhr Lienhard nach Galena zurück, um sein Gepäck abzuholen. Er traf sich dort auch wieder mit zwei Schweizern, die er im Sommer kennen gelernt hatte. Beide lebten schon mehrere Jahre in den USA, waren aber, wie er selbst, noch nicht zur Ruhe gekommen. «Der Eine hiess Heinrich Thomen 154[und] war gebürtig aus Biberstein, Canton Aargau. Er war kaum von mittlerer Grösse, hatte röthliche Haare und war in seinem Gesicht ein wenig Sommersprossig. Er war ungefähr acht Jahre älter als ich, aber sein Wesen hatte etwas Ansprechendes für mich. Der Andere war aus Kienberg, Canton Soloturn, mit Namen Jakob Ripstein. 155Er war ein grosser, schlanker und schöner Mann mit dunkeln, ein wenig scharfen Augen [und] dunkeln, etwas lockigen Haaren. Er war rasch in seinen Bewegungen, schien lebhaften, aufgeregten Temperamentes und war ebenfalls um acht Jahre älter als ich.» 156
Gemeinsam diskutierten sie die Vor- und Nachteile verschiedener Reiseziele wie Oregon, Kalifornien und Südamerika, wobei Letzteres bald in den Hintergrund rückte, da eine Reise dorthin damals noch mit grossen Schwierigkeiten und Risiken verbunden war. «Mit Oregon oder California war das etwas Anderes. Um dahin zu gelangen, hatte man kein Meer zu kreuzen, keine Wellen, stürmische hoche See zu befürchten; das Schiff, welchem man sich anvertraute, war ein solider, starker Wagen, entweder mit Mauleseln oder Ochsen bespannt, das Steuer waren die Leitseile oder eine gute Ochsenpeitsche. […] Mit diesen zwei Männern sprach ich mehrere Mal über eine Reise dorthin, besonders nach California, denn damals hatte man bereits einige glühende Berichte über Californien gelesen, welche von einem Schweizer Captain Sutter geschrieben waren, und nach diesen Berichten hätte dieses Wunderland ein halbes Paradis sein müssen.» 157Oft erinnerte er sich auch noch an jene regnerische Nacht im November 1843, als er das magische Wort «California» zum ersten Mal gehört hatte und am liebsten sogleich in das geheimnisvolle Land am Pazifik aufgebrochen wäre. Obwohl die Verwirklichung dieser Pläne nun näher zu rücken schien, verliess er Galena ohne konkrete Abmachung mit seinen Freunden.
Lienhard führte das gescheiterte Fichtenwald-Projekt des vergangenen Sommers zu einem guten Teil auf seine noch immer mangelhaften Englischkenntnisse zurück. Zu oft musste er sich bei wichtigen Auskünften auf andere verlassen, und dies wollte er nun endgültig ändern. In den Wintermonaten 1845/46 nahm er deshalb keine feste Arbeit an, sondern besuchte zuerst in Greenville, rund zwanzig Meilen nordöstlich von Highland, den Sprachunterricht der öffentlichen Schule, auch nahm er dort Kost und Logis bei englischsprachigen Familien. Als die Schule schloss, setzte er den Unterricht noch eine Weile in Highland fort. Als er hier wieder am Wechselfieber erkrankte, das jetzt der Jahreszeit entsprechend «Winterfieber» genannt wurde, kam er zur Überzeugung, dass er in dieser Gegend wohl nie mehr ganz gesund würde, und die Ärzte, die er darüber befragte, bestätigten seine Befürchtungen.
Jakob Schütz allerdings wünschte sich, dass sein junger Freund in Neu-Schweizerland bliebe. Er beabsichtigte nämlich, bei seiner Farm 158einen Laden und eine Poststelle einzurichten, deren Leitung er Lienhard als Partner überlassen wollte. Die nötigen Kenntnisse sollte sich dieser in St. Louis erwerben, wozu sich, so Schütz, Kaufmann Böschensteins Geschäft gut eignen würde. Er wollte Lienhard deshalb so bald als möglich nach St. Louis begleiten, um persönlich mit Böschenstein zu reden.
Nun wurde es eng für Lienhards eigene Pläne, und das Angebot von Schütz machte ihm die Sache nicht leichter: «Dieser Idee, obschon insoweit angenehm für mich, pflichtete ich doch nur so halb bei, dazwischen drängte sich bei mir immer der Gedanke an Californien.» 159Von Unruhe getrieben, fuhr er zuerst noch einmal allein nach St. Louis, suchte die verschiedenen Marktplätze auf und erkundigte sich nach Personen, die beabsichtigten, bald die Landreise nach Kalifornien anzutreten. Doch die Reaktion der Leute fiel durchweg enttäuschend aus: «Ich fürchte, dass damals mehr als Einer der Befragten sich einbildete, es müsse mit mir nicht richtig in meinem Hirn sein, denn viele staunten mich an, als ob ich sie um eine Luftbaloonreise nach dem Mond gefragt hätte. ‹Nach Californien reisen? Wo ligt denn solch ein Land?› Auch keine einzige der befragten Personen schien etwas entweder von California oder Oregon, noch von Personen, welche nach jenen Gegenden reisen wollten, zu wissen. Ich war daher gezwungen, mein seit Jahren gehegter Gedanken, selbst dorthin zu reisen, aufzugeben, so ungern ich dieses that.» 160
So kam es, dass er im März 1846 bei Böschenstein eintrat, um das Verkaufsgeschäft zu erlernen. Der Kaufmann hatte gerade einen neuen Gehilfen gesucht und Lienhard auf die Empfehlung von Schütz sogleich angestellt. Lohn wollte er ihm allerdings erst später bezahlen, wenn er ihn besser kenne und mit seiner Arbeit zufrieden sei. Immerhin war er bereit, Lienhard die Kost im Switzerland Boarding House zu bezahlen und ihn in seinem Laden schlafen zu lassen. Lienhard hatte sich inzwischen mit der Situation abgefunden und ging guten Mutes an die neue Aufgabe: «Unser Store war ein gemischter oder was man unter Dry goods and Groceries versteht, und wie ich glaube, ist ein solcher für ein junger Mann der Beste, um darin zu lernen. Was mich anbelangte, fand ich es durchaus nicht schwer, zu begreiffen und zu erlernen, was man mir einmal gezeigt hatte. […] Morgends, nachdem ich alles in den gehörigen Stand gesetzt hatte, kam dann Herr Böschenstein schon vom Frühstück, und ich gieng nach meinem Kosthaus, um mein Frühstück einzunehmen. Den Gedanken, dieses Jahr nach California zu gelangen, hatte ich bereits fallen lassen als Unausführbar, denn von Thomen und Ripstein hatte ich nichts mehr erfahren.» 161
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