Am 17. Januar 1931, um sechs Uhr abends platzte die Fruchtblase.302 Fast gleichzeitig begann es zu schneien. Wegen der Kälte schlief Greti nicht mehr im unbeheizten Hochzeitszimmer, sondern richtete sich stattdessen im holzgetäfelten Ofenzimmer ein.303 Nach dem Abendessen legte sie sich erwartungsvoll ins Bett. Brüderlein, werden wir «es» morgen haben. Die ganze Familie planget darauf.304 Es war Samstag, und die Nacht hindurch fielen dicke Flocken vom Himmel. Der Kachelofen verbreitete eine wohlige Wärme. Nachts um halb drei spürte sie ein leises Weh, doch am Morgen waren die Schmerzen wieder verklungen.305
Um die Zeit zu vertreiben, liess sich Greti von ihrer Schwester Elsi die Skis anschnallen. Zusammen mit der Hebamme Anny, die zur Geburt angereist war, zogen sie los,306 pflügten im Pfarrhausgarten mühselig eine Spur durch das unberührte Weiss, zwischen den Zwetschgen- und Kirschbäumen hindurch, über den Kartoffelacker, vorbei am Hühnerhaus. Im Sommer watschelten hier Enten herum, Hühner scharrten und Schweine gruben ihre Rüssel in die Erde.307 Es war schön, durch das Gestöber über den vielen, weichen Schnee hinauszuschleifen, aber jetzt bin ich reichlich müde.308 Früher hatte sie sich hier tagelang mit den Nachbarskindern herumgetrieben. Im Winter kraxelten sie mit dem Schlitten auf die Hügel und sausten johlend hinunter. Im Sommer boten der Garten und der verwinkelte alte Dorfkern Verstecke.309
Als sie mit neunzehn vor der Matura vom Deutschlehrer die Aufgabe erhielt, ein Curriculum Vitae zu verfassen, füllte sie zwei Schulhefte mit Kindheitserinnerungen und dachte darüber nach, wie sie zu der jungen Frau geworden war, die sie war. Die Puppen langweilten mich. Es gefiel mir viel besser, über die Dorfkinder zu herrschen, denn als Pfarrerskind hielten sie mich für etwas Besseres. Dazu war ich von einer wahren Herrschsucht beseelt und jedes, das nicht gehorchen wollte, wurde unbarmherzig aus unserm Kreise verbannt.310
Wie Greti mit den Dorfkindern umsprang, so behandelte der Vater sie zu Hause. Später erinnerte sie sich an eine Familienkultur voll Streit und Strafen. Ich fürchtete mich entsetzlich vor Schlägen. Obgleich wir wussten, dass unser Vater den Zank nicht leiden konnte, stritten wir Geschwister oft und hartnäckig.311 Hörte der Vater Geschrei aus dem Kinderzimmer, befahl er den Töchtern, den Stecken zu bringen, der im Korridor auf dem Spiegeltisch lag. Manchmal versuchte Greti, ihn mit Argumenten von der Prügelstrafe abzubringen, in seltenen Fällen gelang ihr das auch. Eines Morgens stritt ich mit meiner Schwester. Erbost versetzte ich ihr einen Hieb. Da rief uns der Vater aus dem Nebenzimmer. In den Hemdchen traten wir an sein Bett und erwarteten voll Angst eine Strafe. Er fragte nach der Ursache des Streits, und ich erzählte ihm alles und fügte hinzu: «Ich konnte nicht anders, es zuckte mir in der Hand, und ich musste sie schlagen. Es ist dasselbe, das Du in Dir hast, und von dir erbte ich es.» Wortlos schickte er uns weg.312 Eine Gegenwelt zur strengen Herrschaft des Vaters fand Greti in der Fantasie. Ich lebte in jenen Jahren überhaupt in einer eigenen Geschichten- und Märchenwelt. Wenn meine Mutter mich irgendwohin schickte, ging ich gerne allein, kümmerte mich nie darum, was auf der Strasse vorging, sondern ging träumend und Geschichten aussinnend dahin. Es kam öfters vor, dass ich laut vor mich hinsprach. Ich konnte auch lange Zeit am selben Fleck sitzen und an meinen nie endenwollenden Geschichten weiterspinnen.313
Mit neunzehn Jahren zog Greti Bilanz: Der Vater habe mit seiner strengen Erziehung sein eigentliches Ziel verfehlt. Wenn ich bestraft wurde, wollte ich mir nie mein Unrecht gestehen, und voll Trotz dachte ich dann: «Warte Du nur, bis ich einmal gross sein werde.» Ich glaube, kluge Überredung hätte bei mir weit mehr ausgerichtet, denn ich fragte von jeher nach dem «Warum» und werde jetzt noch von vielen ausgelacht, weil ich immer frage: «Warum?» Diese Strafen mögen auch schuld sein an dem Mangel an Selbstvertrauen, unter dem ich leide.314
Der strenge Pfarrer versagte der Tochter auch die Vergnügungen der Dorfjugend.315 Verzweifelt schaute Greti vom Fenster aus den Paaren zu, die beschwingten Schrittes zum Gasthaus zogen. War ich denn nicht jung und fröhlich! Wozu hatte ich denn heile Glieder, wenn ich sie nicht brauchen durfte? Sollte meine Jugend denn nur aus Lernen und Streben bestehen, und sollte ich das Beste, das ihr gegeben ist, die Fröhlichkeit, die Lebenslust und Lebensgier unterdrücken, nur weil ich in der menschlichen Gesellschaft den Rang einer Pfarrerstochter einnahm, den ich mir ja nicht einmal selbst gewählt. War ich denn «besser» als andere?316 Heimlich zog sie los und mischte sich unter die Tanzenden. Im Säli drehte sie einige Runden in den Armen der jungen Burschen, mit denen sie noch wenige Jahre zuvor Verstecken gespielt hatte. Lange traute sie sich nicht wegzubleiben. Nach einer Dreiviertelstunde schlich sie zurück ins Pfarrhaus, doch ihr Ausflug blieb nicht unentdeckt. Das erwartete Donnerwetter ertrug sie geduldig. Nach einer Woche eisigen Schweigens bat sie den Vater, ihr nicht mehr böse zu sein. Mit keinem Worte bat ich ihn um Verzeihung oder sprach von Reue, denn ich fühlte keine, und Reue heucheln konnte ich nicht. Ich wusste nur, dass ich es um des lieben Friedens und der Reputation meines Vaters willen nicht mehr tun würde.317
Tina Münger, 1925–2017, Pflegekind bei Gretis Eltern
vom ersten Lebensjahr bis zur Konfirmation
Ich durfte nie ins Dorf, nicht mal im Winter schlitteln mit andern Kindern. Sie hatten Angst, ich könnte etwas erzählen, das nicht zum Pfarrhaus hinaus darf. Ein Kind erzählt halt schnell mal etwas. Es hiess immer: Du gehörst nicht zu uns. Das tat unheimlich weh, das glaubt man gar nicht. Und doch – wenn es ums Helfen ging, da war ich ihnen recht. Ich musste es mir verdienen, dass ich dort sein durfte. Im Garten, das Pfarrhaus sauber halten, Fenster putzen, Böden putzen, Kästen rausputzen. Furchtbar! Weisst Du, man lebte ganz anders als heute. Nur allein ein Waschtag, da bist Du ja fast draufgegangen. Heute schmeisst Du das Zeug in die Maschine. Damals musstest Du reiben und raspeln und machen.
Papa Roffler konnte mich plagen bis aufs Blut, wenn er kontrollierte, ob ich in meinem Zimmer Ordnung halte. Er war so rechthaberisch. Er hat einem alles vergönnt, irgendwie. Man ist nicht drausgekommen, ist es der Beruf, der ihm nicht passt – was passt ihm nicht? Ich hatte einfach das Gefühl, das ganze Leben passt ihm nicht.
Nach dem väterlichen Machtwort war klar: Als Pfarrerstochter würde Greti in Igis immer eine Aussenseiterin bleiben.318 Immer öfter sehnte sie sich nach Furna. In dem Zweihundertseelendorf hoch über dem Prättigau lebten ihre Grosseltern, bei denen sie fast alle Schulferien verbrachte. Wenn sie im Tal aus dem Zug stieg und die stündige Wanderung zum Dorf hoch unter die Füsse nahm, freute sie sich, von den Entgegenkommenden das vertraute Furnerdeutsch zu hören. Schon beim Aufstieg wurde aus dem «Grüazi», das auf der zweiten Silbe betont kurz und fremd tönt und bei vornehmen Churerdamen zu einem bauchartigen «zi» wird, das vertraute, ein wenig naive «Grü-azi», das auf der ersten Silbe betont ist.319 Unbewusst glich ich meine Sprache der ihren an.320 Während der Ferien ging Greti ganz im Bauernleben auf. Ich machte meinem Grossvater jeden Abend den Stallknecht. Ich mistete den Stall aus, brachte den Tieren Wasser und Heu und melkte die Ziegen. Ich tauchte unter in dem Leben, dem Denken und Fühlen meiner Landsleute.321
In Furna fühlte sie sich frei und wiegte sich in der Illusion, endlich nicht mehr aussergewöhnlich zu sein. Fern der väterlichen Argusaugen ging sie mit den Bauernkindern zum Tanz. Es wurde auf einem Bretterboden, in einem kleinen, nur von einer Petroleumlampe erhellten Raume getanzt, und es war sehr gemütlich. Doch sie spürte bald, dass sie auch hier nicht dazu gehörte. Ich denke und empfinde anders als sie, obwohl ich von ihnen abstamme und vom selben Holz bin wie sie.322 Greti war überall fremd: als Pfarrerstocher an ihrem Wohnort Igis, als Auswärtige in ihrem Heimatdorf Furna. Wo ich daheim bin und wo ich wurzle, werde ich als eine Fremde empfunden, und wo ich meinesgleichen finde, bin ich nicht daheim.323
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