Als Zwölfjährige hatte Greti ebenfalls revolutionsähnliche Zustände erlebt, auf die sie sich damals keinen Reim hatte machen können. Die starke Teuerung und die schlechte Lebensmittelversorgung während des Ersten Weltkriegs hatten die Not der Arbeiterfamilien so gross werden lassen, dass es im November 1918 zu einem landesweiten Generalstreik kam, der schwersten politischen Krise seit der Gründung des Bundesstaates. In Graubünden streikten die Angestellten der Rhätischen Bahn,271 was die Pfarrerstochter direkt zu spüren bekam und im Tagebuch festhielt. Heute morgen sagte Mama zu mir: «Greti, Du musst nach Chur laufen.» Ich antwortete: «Warum, ich kann doch mit dem Zug fahren, warum laufen?» «Es fährt eben keine Bahn, nur morgens und abends Militärzüge. Die Sozialisten streiken und die andern können allein auch nichts machen.» Also entschlossen sich Käti und ich, die Reise zu wagen. Als wir beide um Viertel nach zehn Uhr am «Znüni» sassen, – das Käti und mir das Mittagessen ersetzen sollte – , hörten wir plötzlich viele Fuhrwerke vorbeifahren. Wir eilten ans Fenster und sahen Wagen, auf denen viele Soldaten sassen. Wir fragten nun, ob wir auch mitfahren dürfen. Sie liessen uns auf dem hintersten aufsitzen. Jetzt ging’s schnell nach Zizers hin. Dort wurde eine halbe Stunde Rast gemacht. Wir froren entsetzlich. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, setzte sich auch noch ein betrunkener Mann auf die hintere Bank in unserem Wagen. (…) Als wir in Chur anlangten, stiegen wir ab und bedankten uns. Wir besorgten Papas Brief und Medizin und kauften uns zwei «Schilt» [vier helle Brötchen aneinander]. Dann begaben wir uns auf den Heimweg.272
Die Kinder sahen es als Abenteuer, für die Eltern war die Situation existenziell. Die Spanische Grippe raffte 1918 in der Schweiz fünfundzwanzigtausend Menschen dahin.273 Joos Roffler lag mit vierzig Grad Fieber im Bett, die Medizin, die die Töchter in Chur holten, rettete möglicherweise sein Leben. Doch der Pfarrherr dachte nicht an den Tod. Aus dem Krankenbett schrieb er einen Leitartikel für den Graubündner General Anzeiger, dessen Redaktion er neben dem Pfarramt führte, und bezog Stellung zu den nationalen Ereignissen. Dabei wetterte er gegen die Linken, die seiner Ansicht nach nicht versucht hätten, ihre Forderungen im Parlament durchzusetzen, und nun mit brutaler Gewalt agierten. Ist das nicht ein frevelhaftes Spiel, das da zum Schaden des ganzen Volkes getrieben wird von Männern, die einer gläubigen Menge vorgaukeln, gute Demokraten zu sein und doch bis über die Ohren in anarchistischen Anschauungen drinstecken?274 Die Methoden der Streikenden verurteilte er, ihre Forderungen hingegen unterstützte er. Es sind teilweise Postulate, zu denen man mit ganzem Herzen stehen kann. Wir nennen nur die Alters- und Invalidenversicherung. Zu deren Durchführung soll aber der gesetzliche275 Weg betreten werden. Zur Forderung nach dem Frauenstimmrecht schwieg er.
Dafür hatte er sich kurz zuvor dezidiert zum kirchlichen Frauenstimmrecht geäussert, über das in Graubünden am 13. Oktober 1918 abgestimmt worden war. Mit Verve hatte er die reformierten Männer dazu aufgerufen, ein Ja in die Urne zu legen. Die Frau als die erste Pflegerin des erwachenden religiösen Lebens im Kinde und als der nach seiner Gemütsanlage ganz besonders empfängliche und zahlreichere Teil der Kirchenbesucher hat entschieden ein Recht darauf, in kirchlichen Dingen, wie z. B. bei Pfarrwahlen, bei Entscheidungen über die Ausgestaltung des kirchlichen Unterrichts und dergleichen auch gehört zu werden. Die Befürchtung, solche Mitarbeit könnte sie ihrem eigentlichen Berufe als Mutter, als Erzieherin der Kinder entziehen oder gar entfremden, hat sich in den Gebieten der Schweiz und anderer Länder, welche darüber zum Teil schon langjährige Erfahrungen besitzen, als unbegründet erwiesen.276 Dass de facto erst Bern und Basel das kirchliche Frauenstimmrecht eingeführt hatten, und das auch erst vor wenigen Monaten,277 verschwieg er. Stattdessen stellte er das Stimmrecht als logische Konsequenz eines lang zuvor gefällten Entscheids dar. Schon längst haben wir zur Gleichstellung der Frau den ersten Schritt getan mit Einführung der gleichen Schulpflicht für Knaben wie Mädchen. Das hat seinerzeit ganz ähnliche Bedenken gerufen wie jetzt die Forderung des Frauenstimmrechts.278
Für Joos Roffler waren die Weichen gestellt. Das Abstimmungsresultat schien ihm Recht zu geben: Die reformierten Männer Graubündens nahmen das Frauenstimmrecht in den Kirchgemeinden mit 56,4 Prozent Ja-Stimmen an. Ein klares Resultat, möglicherweise begünstigt durch den Umstand, dass kaum ein Wahlkampf stattgefunden hatte.279 Wegen der Spanischen Grippe waren Gottesdienste und Versammlungen teilweise verboten, und das Abstimmungsmaterial hatte die Stimmberechtigten erst wenige Tage vor dem Urnengang erreicht. 280Mit derlei Spitzfindigkeiten hielt sich Joos Roffler nicht auf. Er dachte weiter. Es wird sicher eine Zeit kommen, wo man es ebenso selbstverständlich findet, dass die durch die Schule dem Manne ebenbürtig ausgebildete Frau diese Bildung auch gleich dem Manne frei betätigt.281 So wie Schulpflicht und kirchliches Stimmrecht nun eine Tatsache waren, würde den Frauen auch bald das Recht auf Berufstätigkeit eingeräumt, und somit den Theologinnen auch das Recht, als Pfarrerinnen zu amten.
Zwölf Jahre später, als seine älteste Tochter ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte und in ihrem Elternhaus der Geburt ihres ersten Kindes entgegensah, war Joos Rofflers Vision noch weit entfernt davon, Realität zu werden. Dass Theologinnen nach geltendem Recht kein Pfarramt übernehmen durften, war das Eine. Dass aber nicht einmal die Frauen sich eine Frau auf der Kanzel vorstellen konnten, war für Greti im Oktober 1930 eine bittere Erkenntnis. Hoffnungsvoll war sie von Igis nach Chur gefahren, froh um die Abwechslung von ihrem Alltag als werdende Mutter im Pfarrhaus bei den Eltern und Geschwistern. Ihre Freundin Verena sprach auf Einladung des Vereins Junge Bündnerinnen über die Mithilfe der Frau in Kirche und Gemeindedienst.282 Das Referat begeisterte Greti, doch die andern Frauen im Saal teilten ihren Enthusiasmus nicht. Ich habe nicht gewusst, dass ich einem Verein angehöre, dessen eine Tendenz ist, die Frau ins Haus zurückzuführen!!283
In ihrer Wut sah sie sich die Koffer packen und nach Brasilien zurückkehren. Doch dann erwachte ihr Kampfgeist. Wo sogar die Frauen so rückwärtsgewandt dachten, war ihre Arbeit umso nötiger. Sie schrieb an Gian: Zunächst gilt es, ihnen einfach die Möglichkeit, Frau und Mutter und Beruf zu vereinen, vorzuleben. Dass dazu vor allem ein ganz fabelhafter Mann gehört, daran wird nie gedacht, aber für mich bist Du deswegen doch der tragende Grund, ich weiss es doch. Der Mann wird von ihnen überhaupt nie zur Familie gerechnet. Die Mutter und Kinder mehr ins Haus!! Vom Vater wird nicht gesprochen, der hat das Geld zu bringen.284
Greti wusste wohl, wie unerhört ihre Ideen waren. Nachts im Traum holten ihre Ängste sie ein. Ich hatte eine Mathematikklausur, lag aber auf einem Bett, in einem anderen lagen285 der Professor und ein paar Schüler, wir waren alle angekleidet. Ich hatte Mühe, mit der Arbeit zurechtzukommen: ein Kind kletterte zu mir ins Bett, ich warf es hinaus, es kletterte noch einmal herein, und ich warf es wieder hinaus. Dann erwachte ich und erschrak: was war dies anderes als der Konflikt zwischen meiner Arbeit und «ihm». Dass ich aber so unbereit für «es» sei, hatte ich nicht gedacht.286
Ihre Freundin Verena konnte Gretis Zwiespalt gut nachfühlen. Ja, ja, mein Liebes, ich muss auch immer und immer wieder denken, ob es nicht Hybris ist, was wir uns da zumuten, ob wir es eigentlich eben doch nicht können. Aber: Das Wort ward Fleisch. Was nützt uns denn unser Glaube, wenn ein Leben von Gott her nur denen möglich ist, die sich doch mehr oder weniger gründlich vom Leben mit seinen Ansprüchen gerettet haben? Nein, im Leben und in unserem Beruf und in der Ehe stehend müssen wir verkünden, müssen gerade von den Dingen reden, über die man sonst gewöhnlich schweigt und die für gewöhnlich mit so viel Lügen umgeben sind, eben weil die, die von ihnen reden könnten, ihnen zu ferne stehen und daher auch schweigen: den Beziehungen zu den andern Menschen!287
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