Auch tagsüber beginnt es nach vier Uhr wieder zu schneien. Vorher wird der Himmel höher, wohl wegen der schwachen Sonne, die, wenn auch unsichtbar, dort über den Nebelstreifen scheint. Dann, um die Zeit, da die Sonne gewöhnlich hinter dem hohen Berg verschwindet, senkt sich das Grau des Himmels bis zur Grenze der Dächer, und der Schnee beginnt wieder zu fallen. Vielleicht wird das Wetter die Nacht über geregelt von dem Gesetz, das, wie es heißt, die Geburt bei den Kühen lenkt: Vielleicht ist es eine Wirkung des Mondes, auch wenn man den Mond über den dichten Nebelstreifen nicht sieht; die Bauern wachen bei den Kühen bis Mitternacht, und wenn diese bis dahin nicht gekalbt haben, können sich die Männer getrost drei, vier Stunden auf die Streu werfen – das Kalb wird am frühen Morgen geboren werden.
Wenn ich um Mitternacht zu Bett gehe, hört auch der Schnee auf zu fallen, man sieht nur das Schwarz des Himmels. Abends um vier Uhr beginnt es damit, dass die Luft weicher wird, und dann riecht man den Nebel, der von den Dachfirsten herunterkommt.
Und dann fängt es an; im Anfang ist es ein dichtes Schneegestöber; feine Körnchen, die den Boden nicht berühren, drehen sich geschwind und verlieren sich in Wolken von Schnee. Von den Dachfirsten bläst der Wind weiteren Schnee vor die Haustüren; dann fällt der Wind.
Wenn der Wind fällt, ist die Luft wie leer. Aber das dauert nicht lange: Die Leere füllt sich wieder dicht mit Luft und mit Schneeflocken, die in der nach Schnee duftenden Luft senkrecht und still herabkommen. Es gibt Menschen, die den ersten Schnee ohne Hass oder Furchtgefühle betrachten, von der Türschwelle aus oder oben an einer Steintreppe, oder hinter Fensterscheiben, während sie einen Vorhang beiseite schieben, oder unter dem Dachfirst.
Der Schnee fällt auf andern Schnee mit einem feinen Knistern. Nach einigen Tagen gibt es nur noch das Fallen von Schnee.
Er ist so weich, dicht, kalt und trocken, dass man keinerlei Geräusch hört. Die Schicht wächst ganz still; aber wenn man, ohne im Augenblick daran zu denken, an einer niederen Böschung zu Seiten der Straße vorübergeht und die Leichtigkeit schwer wird, kommt es vor, dass man im Schnee ein geringes Sichsenken bemerkt; eine obere Schicht setzt sich auf die untere, schon festere, und ist nun ihrerseits geeignet, eine neue Schicht Luft und Schnee zu tragen, jene festere immer mehr niederzudrücken, als wohne dieser ein Wille inne, Eis zu werden. Von Schicht zu Schicht, unwahrnehmbar immer höher, immer dichter zugedeckt, verschwinden die Kennzeichen der Pfade, die Grenzlinien, die Hecken auf den Wiesen, die Begrenzungen aus Stein oder Holz, die das Mein, das Dein, das Sein bezeichnen, an der Schwelle des jeweiligen Eigentums, die Erinnerung an den Zentimeter geraubter Erde, die Narben von strittigen Teilungen zwischen Menschen, die längst gestorben sind, die Feldkreuze, die ein Gebet an Gott richten: Alles verschwindet.
Von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wächst der Schnee, es sind Kristalle ohne Gewicht, die sich vereinen und bis zum Fensterbrett der untersten Fenster hinaufwachsen. Der Haufen kriecht hoch wie eine Hecke, eine Mauer, er verdunkelt die Küchen.
Wenn ich vor Vandas Fenster vorübergehe, schaue ich immer, ob sie hinter den Scheiben steht. Ich hoffe es jedes Mal. Der Gussstein ist direkt vor dem Fenster; sie kämmt sich die Haare im hellen Tageslicht, wobei sie die Arme hebt und den Kopf etwas nach hinten wirft.
Nach dem großen Schneefall dieser Nächte ist nur noch der oberste Fensterrand zu sehen. So kann ich mich mit Vanda nicht mehr mit den Händen durch die Scheiben verständigen.
Wenn ich zu Bett gehe, hat der Schnee alle Schritte des Tages auf der Straße ausgelöscht.
Trifft man diesen oder jenen vom Dorf, so sagt man immer die gleichen Dinge zueinander: Es schneit, es kommt Schnee herunter, es schüttet geradezu Arme voll, es schneit, so viel Gott uns schickt, der Schnee häuft sich, er steigt hoch, er wächst, es sieht nicht aus, als werde es aufhören; wenn er Zucker wäre oder wenigstens Quark, dann könnten wir uns eingraben wie die Murmeltiere, die Maulwürfe; wer hat nur diese Dörfer erfunden! Es ist wie zur Zeit der Regenfälle, aber da sagen wir sehr viel weniger beharrlich einer zum andern: Jetzt wird alles nass, im Juli dagegen oder, wenn es sich hinzieht, im Herbst, jetzt trocknet das Heu. Nur um vor oder nach dem Gruß irgendetwas zu sagen.
Der Oktober hat uns alle getäuscht; den großen Ahorn über unserem Haus, der jetzt so kümmerlich ist, fast ganz begraben, dass ich ihn gar nicht ansehen mag – den zeigten damals selbst die Bauern einander, als halte er mit seinen vielen goldenen Blättern an den Zweigen die schönen Tage fest. Mariangela sagte das noch öfter als alle andern: für die Tante, die so wenigstens den lieben langen Tag auf den Feldern zubringen konnte, um hier oder da Körner auszuhülsen oder draußen ein Auge auf die Geißen und Hühner zu haben; und der Schlaf kam in der Nacht leichter; und sie starrte nicht immerzu auf die Bank und dachte nicht jede Minute an die Söhne, die in weite Ferne ausgewandert und dann gestorben waren: diese leere Bank! Es würde später so weit kommen, dass die Haustür hinter ihr geschlossen würde, während sie doch, wie jede Mutter in der Welt, darauf zählte, dass der letzte der Söhne die Tür schlösse, ja dass sie nie geschlossen zu werden brauchte, weil immer neue Generationen heranwuchsen. Wenn du an diesen Tagen zu ihr ins Haus kommst, schlägt sie dir ein Ei schaumig, während der Kaffee heiß gemacht wird, und spricht ebenfalls vom Schnee, vom Mond, der bald voll wird; aber wenn du wüsstest, was beim Sprechen hinter jener Stirn vorgeht! Ich weiß nicht, was sie in sich herumwälzt, wenn sie so den ganzen langen Tag vor dem Ofen oder vor der Kaffeekanne hockt.
«Für jemand wie Sie möchte ich die Augen zwei Minuten schließen, sie wieder öffnen und das Land ohne Schnee sehen.»
«Oh, sieh nur, wie er herunterkommt!»
«Es wäre Zeit, dass dieses Im-Schnee-Stapfen ein Ende nimmt», sagt Dionigi, der vorübergeht, «ich weiß nicht mehr, wo ich die Hände hinstecken soll.»
Er hält sie immer in der Tasche. Heute Nacht wird er auf eine Färse Acht geben müssen, die kalben soll. Wenn im Dorf keine Menschen mehr geboren werden, ist es doch schön, dass Tiere geboren werden.
In der Osteria erzählt er mir von Gemüsesuppen mit ganz fein geschnittenen Kräutern aller Art, während ich ihm von Frauen erzähle; ich könnte sein Sohn sein, und wie hört er mir zu, wenn ich ihm von Frauen erzähle! Ein andermal kommt Jole an die Reihe; später erscheint auch ihr Vater in der Osteria, der hiesige Polizist. Bei diesem Wetter ist auch er immer unterwegs, wie die Stallkatze. Ihn zu sehen ist für mich ärger, als wenn ich sehe, wie es schneit; vielleicht denkt er das Gleiche von mir. Wir sind hier im Dorf die beiden Angestellten der Regierung. Von dem einen Tischende zum andern betrachten wir uns genauso, wie wenn unsere Blicke sich durch die Scheiben und den fallenden Schnee hindurch begegnen, er an seinem Fenster, ich an dem meinen, um Jole zu sehen – sie ist seine Tochter; niemand, der es nicht weiß, würde das sagen. Oft glückt es keinem von uns beiden, den notwendigen Schritt nach rückwärts zu tun, mit der Dunkelheit zusammenzufließen. Er bleibt aufgerichtet am Vorhang stehen, wie in seine Uniform eingemauert. Was treibt ihn ans Fenster? Nicht das, was mich hintreibt: Ob er im Stillen solche Empfindungen hat wie Alfonsos Luigi? Er holt sein Kind jeden Abend von der Schule ab, und wenn die Buben das Gebet aufsagen, nimmt auch er die Mütze ab und bekreuzigt sich, und es ist ihm vollkommen gleichgültig, ob ein anderer ihn beobachtet. Wenn wir hier lebend herauskommen, trägt er Mitte August das Banner für die Muttergottes. Auch jetzt, wo die Kraft der Arme nichts mehr zählt – sein Gesicht ist weißer als meines –, beneide ich ihn um seine Kraft; dass er den Sohn jedes Mal nach Schulschluss auf die Schultern nimmt und die ganze Straße hinunter nach Hause trägt, macht ihm gar nichts aus.
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