Seit meiner Kindheit sind wir zum ersten Mal voneinander abgeschnitten, nicht im regelmässigen telefonischen Kontakt. Für meine Mutter, so stelle ich mir vor, ist die Funkstille schlimmer als für mich. Umso weniger verstehe ich, weshalb sie nicht jemanden finden kann, der ihr zeigt, wie Skype funktioniert. Die Abwesenheit ihrer Stimme kommt mir wie ein kleiner Tod vor, ein Vorgeschmack auf mein Leben ohne sie.
Gestern habe ich sie auf dem Festnetz angerufen. Alles sei in Ordnung, sagte sie, ausser dem Gerät. «Es funktioniert nicht, wir haben alles versucht!»
*
Nach Mitternacht beginnen die herrenlosen Hunde zu jaulen und zu bellen. Mal sind sie weiter weg, mal habe ich das Gefühl, einer stehe unmittelbar vor meiner Tür. Kurz nach vier Uhr kräht ein Hahn, die ersten Krähen beginnen zu krächzen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, mehrmals aufzuwachen. Obwohl ich müde bin, dauert es manchmal lange, bis es mir wieder gelingt einzuschlafen. Zugleich habe ich die Schönheit dieser Stunden entdeckt, in denen ich wach liege, es irgendwann wieder ruhig wird und so etwas wie Stille in mein Zimmer und in den Garten mit den hohen Kokospalmen einkehrt. Oft erinnere ich mich noch an einen Traum. Heute Nacht habe ich gedacht: Den muss ich mir merken!
Aus einem Fenster, das sich im Erdgeschoss befindet, sehe ich auf einen Strand. Meine Mutter geht auf das Wasser zu. Ich bin erstaunt, da sie Angst hat vor dem Meer. Als sie sich in die ans Ufer schlagenden Wellen setzt, denke ich: Sie spinnt mal wieder. Doch plötzlich spüre ich meine starke Liebe zu ihr, denn ich sehe, wie sie absichtlich immer tiefer ins Wasser gleitet. Sie will sich offenbar das Leben nehmen. Innert Sekunden schätze ich ab, ob ich den Sprung aus dem Fenster schaffe. Ich entschliesse mich, hinauszueilen und sie zu retten. Dass mir das gelingen wird, steht ausser Frage.
Als ich einundzwanzig Jahre alt war, hat meine Mutter versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie wohnte damals in einer Einzimmerwohnung, wenige Schritte von der Wohnung entfernt, die sie Jahre zuvor angezündet hatte, in der ich aufgewachsen war und wo mein Vater noch immer lebte. Ich war seit ein paar Wochen auf Kreta, zog mit einem Norweger von Dorf zu Dorf. Im goldenen Licht eines späten Nachmittags wählte ich von einem öffentlichen Telefon am Strassenrand die Nummer meiner Mutter. Ich liess es lange läuten, bis sie abnahm. Sie hauchte etwas ins Telefon, als hätte ich sie geweckt. Mir war klar, dass etwas nicht stimmte. «Ich kann nicht sprechen», flüsterte sie, «ich habe alle meine Medikamente geschluckt, ich will sterben.» Ich hatte Angst und war zugleich gefasst. Mein Vater war in Spanien, und so rief ich eine befreundete Ärztin an, die den Notfallpsychiater und die Sanität kommen liess. Es war bereits dunkel, als mir die Freundin berichtete, man habe meiner Mutter den Magen ausgepumpt, sie sei jetzt in der Klinik.
Es war ihre einunddreissigste Einweisung. Zurück in der Schweiz erfuhr ich, dass die achthundert Milligramm Leponex, die sie eingenommen hatte, nicht tödlich gewesen wären. Aber seither sitzt mir die Angst, dass sie sich das Leben nehmen könnte, in den Knochen. Als Kind und Jugendliche hatte ich oft gedacht: Am besten wäre es, sie würde sterben. Dann wäre unser Leben ruhig und normal, mein Leben und das meines Vaters.
Viel später hörte ich im Radio einen Psychiater sagen, die fehlende Krankheitseinsicht von Menschen mit einer Schizophrenie sei ein vitaler Schutz. Patienten, die ihre Krankheit anerkennen, würden sich sehr oft das Leben nehmen. Die immer wiederkehrenden Schübe haben das Leben meiner Mutter geprägt. Geprägt, nicht zerstört. Vielleicht weil sie die Krankheit negiert. «Ich bin krank» – noch nie hat sie diese Worte ausgesprochen. Sie sagt vielmehr, sie leide unter Heimweh, sie sei «heimwehkrank». Dass ich das stigmatisierende Wort «Schizophrenie» hier nenne, möchte sie nicht. Sie fürchtet, wegen dieses negativ konnotierten Begriffs würden die Leser schlecht von ihr denken. «Du hoffst, dein Buch werde dazu beitragen, dass man offen darüber sprechen kann», sagte sie mir. «Du hast einen offenen Horizont, aber die meisten Menschen sind nicht wie du. Du meinst, du könnest die Welt ändern, aber die Welt ist, wie sie ist.»
Ihre Befürchtungen sind sehr verständlich. Wir haben uns deshalb darauf geeinigt, dass meine Mutter auf diesen Seiten Jehudit heissen wird. Sie hat den Namen ausgewählt und dazu bemerkt, er passe am besten zu ihr. Meine Mutter freut sich aber auch über mein Vorhaben, es erfüllt sie mit Stolz.
In ihren Büchern schreibt die in England und in den USA aufgewachsene Autorin Jhumpa Lahiri über ausgewanderte Bengalen. Als ich vor ein paar Wochen ihren Roman Der Namensvetter las, musste ich an meine Mutter denken. Die Inderin Ashima, die in einer kleinen Universitätsstadt in der Nähe von Boston lebt, bezeichnet darin ihr Leben als Ausländerin als eine Art lebenslange Schwangerschaft, als ein ewiges Warten, eine dauernde Last, ein ständiges Unwohlsein. […] Es ist eine permanente Verantwortung, ein Zwischenspiel im einst normalen Leben, bis man merkt, dass das Leben davor gar nicht mehr existiert, dass etwas Kompliziertes, Anstrengendes an seine Stelle getreten ist.
Das trifft wohl auf sehr viele Ausländer zu. Meine Mutter hat während der meisten Zeit ihres Lebens unter einem doppelten Fremdsein gelitten. Nichts entfremdet einen Menschen so sehr von sich und der Welt wie ein schizophrener Schub, in dem die eigene Wahrnehmung und die Realität nicht übereinstimmen. In diesem Sinne war sie schon in Israel fremd.
Auch beim Lesen von Salman Rushdies Roman Mitternachtskinder, von dessen Ende mich wenige Seiten trennen, dachte ich an sie. Die Hauptfigur verkündet zum Entsetzen ihrer Eltern: In meinem Kopf sprechen Stimmen zu mir. Ich glaube – Ammi, Abboo, ich glaub das wirklich – Erzengel haben angefangen, mit mir zu reden. Rushdie bezeichnet Indien als Land, in dem jede körperliche und geistige Eigentümlichkeit eines Kindes die Familie in tiefe Schande stürzt.
Ich bin sicher, die Eltern meiner Mutter haben sich in Israel für die Krankheit ihrer Tochter geschämt. Sie war ein offenes Geheimnis, nur meinem Vater sagte niemand ein Wort. Meine Mutter verschwieg ihm, dass sie mehrmals in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Die beiden hatten damals bereits begonnen, einander Briefe zu schreiben, in denen es ums Heiraten ging.
*
Ein Wahnsystem ist in sich logisch, es hat einen realen Hintergrund und sagt etwas aus. Dennoch hat es mich nie sonderlich interessiert, was genau die Stimmen zu meiner Mutter sagen. Ich brauchte meine ganze Kraft dafür, meine Mutter in einer anderen Realität zu wissen, physisch anwesend, aber nicht erreichbar. Im Wahn wird meine warmherzige Mutter eiskalt, in ihrem eigenen Sonnensystem kreist ihr Denken nur um sich. Argumente, Bitten und Wünsche von anderen lässt sie nicht mehr an sich heran. Die Beziehung ist gekappt. Anders als ich kann sich ein Arzt relativ distanziert nach dem Inhalt des «inneren Radioprogramms» erkundigen, die Krankengeschichte meiner Mutter ist voll von solchen nüchternen Einträgen.
Wenn ich sie in akuten Phasen frage, ob sie Stimmen höre, gibt sie die Wahrheit nicht immer preis. Sie weiss, wie sie mein Drängen, sie möge die Medikamente wieder nehmen, umgehen kann. Aber ich spüre, dass sie mir etwas vormacht. Über die Jahre habe ich ein untrügliches Sensorium für ihren Zustand entwickelt. Bereits in den ersten Sätzen eines Telefongesprächs höre ich, wie es meiner Mutter geht.
In den letzten Jahren, in denen sie die Medikamente nimmt, klingt ihre Stimme geerdet, zufrieden. Ihr Alltag verläuft in ruhigen Bahnen, sie erzählt mir, wen sie getroffen und was sie gegessen hat. Ihr Gleichmut hat nicht nur mit ihrem neu gefundenen Glauben zu tun. Die Neuroleptika nehmen ihr Ecken und Kanten, machen sie gefügig. Ich wünschte, sie bräuchte sie nicht zu nehmen.
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