Über dieses Buch
Ein Altersheim, unzählige Einzelzimmer. Im Sessel vor dem Fenster träumt Herr Strub von seiner Zeit als Fremdenlegionär in Saida. Frau Zürcher legt sich nach dem Frühstück gleich wieder ins Bett, liest einen Kioskroman nach dem anderen und lebt von Liebe, Linzertörtchen und Lindenblütentee. Mit dem Leben längst abgeschlossen hat Frau Herger; zum Glück hat sie ihren Kummer. Womit sollte sie sich sonst den ganzen Tag beschäftigen? Frau Knobel sagt über sich selbst: Gearbeitet habe ich immer, meistens im Büro, verheiratet war ich nie, bin also immer noch zu haben. Und Sepp kann es nicht fassen, dass ihm dieses Weib vom Verein Frohes Alter zu seinem Neunzigsten keine Flasche Wein geschenkt hat. – Nur eines scheint gewiss: Widersprüche und Sehnsüchte, Heiterkeit und Trauer gehören zum Leben. Und erst mit dem Tod endet die Suche nach jener besseren Welt.
«Dieser Autor weiss um die Kraft seiner Geschichten, und er vertraut ihrer unmittelbaren Wirkung.» Luzerner Zeitung
Foto Paul Joos
Christoph Schwyzer, geboren 1974, lebt mit seiner Familie in Luzern. Er war Lehrer, Altersheimseelsorger und Journalist. Heute ist er vor allem als Herausgeber und Rezitator tätig.
Im Limmat Verlag sind erschienen «Chasch dänkä! Lina Fedier. Über Schneestürme, Schmetterlingskinder und Gottvertrauen» und «Valendas. Die Welt im Dorf», mit Fotografien von Paul Joos.
Christoph Schwyzer
Der Staubwedel muss mit
Prosa
Limmat Verlag
Zürich
Jetzt stellen Sie sich das einmal vor: Ich habe Geburtstag, ich werde neunzig, und dann kommt die da, dieses Weib vom Verein Frohes Alter, kommt also in mein Zimmer, tut so saufreundlich, schüttelt ständig meine Hand, zieht ein buntes Geschenkpäckli aus ihrer Tasche und legt es neben mein Weinglas. Ich reisse das Päckli auf – und wissen Sie, was zum Vorschein kommt? Nein? Ein Schuppen-Shampoo! Rausch-Anti-Schuppen-Shampoo! Das müssen Sie sich jetzt einmal vorstellen: Sie werden neunzig, neunzig Jahre alt und kriegen ein Schuppen-Shampoo geschenkt. So eine ist doch nicht normal, die spinnt! Wenn einer neunzig wird, schenkt man ihm eine Flasche Wein, eine Flasche Schnaps oder meinetwegen halt eine Schachtel Kirschstängeli, aber doch sicher nicht ein Schuppen-Shampoo!
Frau Bebier muss gehen. Der «Sturm der Liebe» kommt. Täglich, von Montag bis Freitag, um fünfzehn Uhr auf ZDF. Sie bezahlt ihren Kaffee, löst sich aus der Plauderrunde, fährt von der Cafeteria mit dem Lift in den fünften Stock, eilt in ihr Zimmer und sinkt, während sie auf den roten Knopf der Fernbedienung drückt, in ihren Sessel. Die fünfzig Minuten nachmittags vor dem Fernseher sind für ihr Herz genauso überlebenswichtig wie die Pillen am Morgen zum Frühstück. Mit Leib und Seele nimmt sie Anteil am stürmischen Liebesleben und erkennt im schwarzhaarigen Hauptdarsteller ihren Franz, der schon lange tot ist, aber noch immer ihr Herz zum Hüpfen bringt.
Verzweifelt suchte Frau Christen nach dem Sinn des Lebens. Die Tiere, dachte sie eines Tages, die haben es gut: Der Ameisenbär sucht Ameisen, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Die Eierschlange sucht Eier, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Der Mäusebussard sucht Mäuse, findet sie, frisst sie und ist zufrieden. Und ich? Ich bin doch angeblich ein Homo sapiens, ein weiser Mensch. Mehr Weisheit essen, hat der Arzt einmal gesagt. Oder hab ich ihn falsch verstanden: mehr Eiweiss essen?
Mit einer Giesskanne tränkt Frau Sommer ihre in Torferde gepflanzten Plastikblumen. Und einmal pro Woche bekommen sie Dünger. Das heisst, Frau Sommer nimmt den Deckel vom Grünkübel, holt eine Bananenschale heraus, vertrocknet und schwarz, schneidet sie auf einem Küchenbrett in Streifchen und drückt mit dem Zeigefinger in jeden Topf drei Streifchen. Schauen Sie, wie grün und gesund und kräftig die Blätter sind. Und erst die Blüten: die Farben satt, ein einziges Leuchten. Plastikblumen hätten eben den Vorteil, dass sie lebenslang blühten. Jedoch nur bei guter Pflege, guter Luft – und viel Liebe. Pflanzen spüren, was wir über sie denken, erklärt sie. Feinstoffliche Wesen. Wenn ich wolle, könne ich ein Töpfchen meiner Wahl mit nach Hause nehmen. Aber Achtung, sagt sie, machen Sie es bloss nicht so wie mein Exmann: War ich hin und wieder ein paar Tage weg, dachte er sich: Meine Frau, die spinnt. Plastikblumen braucht man nicht zu tränken. Aber wissen Sie was – noch jedes Mal erlebte er sein graues Wunder. Kam ich nach Hause, waren die Blumen schlaff, die Stängel gummig, die Blätter fast vertrocknet. Welk.
Ich ergebe mich. Ja, ich glaube daran, dass Plastikblumen lebende Wesen sind. Ich deute mit der Hand auf eine Pflanze mit schneeweissen, pingpongballförmigen Blüten; sie steht auf dem Fernsehgerät: Die möchte ich, die würde mir gefallen! Frau Sommer nickt, ein überlegenes Lächeln im Gesicht. Sie wickelt die Pflanze vorsichtig in Zeitungspapier ein, stellt sie in einen Papiersack, überreicht mir das Geschenk mit gütig strengem Blick.
Sie schaffen das, sagt sie zum Abschied. Wissen Sie, auch ich hatte lange Zeit keinen grünen Daumen. Aber seit ich Pflanzen aus Plastik entdeckt habe, blüht alles! Und nicht vergessen: einmal die Woche düngen.
Sie freute sich, im Postfach lag ein Brief. Es war seine Schrift. Im Brief stand:
Hallo Mutter!
Wie geht es Dir?
Mir geht es gut. Brauche dringend Unterhosen. Drei Stück.
Ansonsten alles wie immer.
Ich liebe Dich.
Dein Patrik
Ihr konnte es nur recht sein, wenn er auch weiterhin nicht in der Lage war, in einen Kleiderladen oder in einen Supermarkt zu gehen und die dringend benötigten Unterhosen einzukaufen. So blieb sie auch Jahrzehnte nach seiner Volljährigkeit seine persönliche Unterhosenlieferantin. Ein kleines Briefchen genügte, hören konnte sie nur noch sehr schlecht, und schon zwei oder drei Tage später traf ein Paket mit weissen Calida-Qualitätsunterhosen mit Durchgriffschlitz bei ihm ein. Dasselbe Modell, wie es Vater immer getragen hatte.
Zum Glück hat Frau Herger ihren Kummer. Sie wüsste nicht, worum sie sich hier im Heim sonst kümmern könnte. Nach dem Frühstück wackelt sie zusammen mit dem Kummer in ihr Zimmer. Frau Herger ist schmächtig und klein, so dass der grosse Kummer problemlos neben ihr auf dem Sofa Platz findet. Der grosse Kummer legt seinen fleischigen Arm um ihre schiefen Schultern, drückt kräftig zu, presst den knochigen Körper an seine Brust. Frau Herger erschrickt, schmiegt sich dann aber vertrauensvoll an seinen Oberarm und lauscht, was der grosse Kummer ihr diesmal ins Ohr diktiert. Sie greift nach dem auf dem Beistelltisch bereitliegenden Notizblock und dem Bleistift – das Kurzzeitgedächtnis! –schreibt auf, worüber sie sich heute ärgern könnte: schlechte Verdauung, Zahnschmerzen, brennende Augen, Regenwetter; die neue, unfreundliche Praktikantin, ein eingebildeter Tischnachbar, zu schwacher Kaffee und ein Sohn, der selten zu Besuch kommt. Nach einer halben Stunde löst der Kummer seine Umarmung, verabschiedet sich freundschaftlich, eilt ins nächste Zimmer. Denn gar mancher würde ohne seine Hilfe vollkommen verkümmern.
Mit Kühen konnte Alfred besser umgehen als mit Menschen. Und auch heute bleibt er lieber in seinem Stall und schaut Tiersendungen. Einige Frauen sagen, der Fredu sei ein Söineggu. Er wasche sich nie und trage, wenn er in die Cafeteria komme, nur ein Unterleibchen, lange Unterhosen und Wollsocken. Andere wollen gehört haben, wie Fredu im Gang mehrmals hintereinander laut gerülpst hat. Doch Alfred hört nicht auf diese Weiber. Und so holt er unerschrocken in der Cafeteria kurz nach elf Uhr seine erste Flasche Bier; schlurft, ohne auch nur einmal den Kopf nach ihnen umzudrehen, an den Milchkaffee nippenden Frauen vorbei, öffnet den Bügelverschluss und beginnt, während er auf den Lift wartet, in grossen Zügen zu trinken.
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