Während dergestalter Koexistenz kamen subtilere Qualitäten als Faust, Stimme, Dauerlauf und Pinkeln zum Tragen. Urs Meier, der Sohn des Chefchirurgen vom Bezirksspital, glänzte mit seinem Imitationstalent und der komischen Laune. Auch er fand das Führerduo vermutlich borniert; unterstützt wurde er von Dieter Hauri, seinem Freund, dem Sohn des Bezirksstaatsanwalts. Beider soziales Prestige drückte zuweilen selbst die grossen zwei an die Wand, doch fehlte Urs wie Dieter der Wille zur Macht; sie alberten lieber.
Urs war längere Zeit krank gewesen, und ich hatte ihn vermisst, denn ich liebte ihn, seiner mitreissenden Lachlust wegen, heimlich und innig. Als er eines Morgens wieder unter uns vor dem Klassenzimmer wartete, fiel ich ihm um den Hals. Er stiess mich nicht zurück, er strich die Liebeshuldigung ein wie ein Trinkgeld.
→ Fip-Fop-Club→ Offside
Fünftklasslehrer Raumer hat eine milde Gewohnheit: Er legt die Aufsatzstunden so, dass eine Pause sie unterbricht. Dies ist vertretbar; allenfalls mag erstaunen, dass selbst er auf den Genuss verzichtet, seine Schüler zwei Stunden lang ohne Pause über ihren Arbeiten schwitzen zu sehen. Mir gibt er Gelegenheit, sozusagen mit inoffizieller Duldung rasch die Texte einiger Kameraden zu überfliegen und ins Auge springende Fehler zu verbessern. Ich tue dies, um sie vor Raumers Hohn zu bewahren, denn schwere Fehler – schwer in seinen grünlichblässlichen Augen – locken ihn aufs Schlachtfeld, und dann Gnad Gott.
«Doo schriibt drMarazzi ‹flüüge› mit V und ‹Vogel› mit F. Wäisch, Marazzi, daas längt nidemou idSchpeziauklass. Jemee Brilantiine ufem Chopf, deschtweniger Hirni drininn. Chaufder emoou es Büchsli vom Bessere. – Natüürlech, sBarrelet hetno immer nid bigriffe, das ‹ich› käis Dingwoort isch. Chunnschder eso wichtig voor, wiut inere Villa hocksch? Aber zGäut ungGschiidhäit händ gottlob sHöi nid ufdr gliiche Büni. – Moserli, no jedem Uufsatz wuurd ii am liebschte diis Heft verschränze. Hesch dRingmuursöili druff lo tanze? Dasch guepfür dGüselabfuer.»
→ Aargauer Schulwand- und Schülerkarte→ Gerechtigkeit→ Raumer
Schweizerdeutsch und Deutsch
Ich kann mich nicht erinnern, Deutsch gelernt zu haben; die Eltern lesen oft vor; in der Schule steige ich mühelos um und zurück, wenn auch in ländlich schweizerdeutscher Aussprache. Meine Hemmungen vor dem abfallenden Schluss-E überwinde ich erst in der 3. Klasse. Dass man nicht wie ein buchstabierender ABC-Schütze Tagé, Mühé, Schulé, sondern Tagö, Mühö, Schulö sprechen sollte, geniert mich entsetzlich. Als mir dämmert, dass man dies nicht zu betonen braucht, sind die Hemmungen überwunden. Tag : nichts natürlicher.
Als wir in der 5. Klasse der Sprache grammatikalisch zu Leibe rücken, halte ichʼs für unnötig, Konjugation von Deklination zu unterscheiden, überhaupt Grammatik zu lernen. Als Raumer mich auffordert, die vier Fälle des Wortes «der Mann» herzusagen, bleibe ich stumm. Um so prompter schnarrt meine Nachbarin über dem Mittelgang, Rosmarie mit den roten Haarmaschen, «der Mann, des Mannes, dem Manne, den Mann» herunter. Raumer ist beglückt: Das kommt ja wie aus der Kanone geschossen! Und er macht Rosmarie schwache Hoffnung, vielleicht, wenn sie sich von nun an ins Zeug lege wie ein Ackergaul und ihr Schwatzwerk ausschliesslich für Antworten auf die Fragen des Lehrers in Gang setze, doch noch mit knapper Not in die Bezirksschule zu rutschen. Es gibt also eine Grammatik, welche die lebendige Rede in ihren Netzen fängt und sie darin zappeln lässt wie den Fisch im Netz und Richtig von Falsch scheidet. Absurd.
→ Elternsprache→ Vorlesen
Unser Gesangsunterricht begann mit «Alle Vögel sind schon da» und dem Kanon «Bruder Jakob», bei dem ich vor Angst, aus dem Takt zu fallen, den Anschluss verpasste. Er setzte sich etwas später fort mit «Lustig ist das Zigeunerleben, trarira», gewann Erhabenheit mit «Der Du die Himmel hältst in Deinen Händen», einem der zahlreichen Versuche, den allzu anspruchsvollen «Schweizerpsalm» resp. «Rufst du, mein Vaterland» als Nationalhymne abzulösen; offenbar sollte dessen Gesangstauglichkeit fürs Volk an uns Schülern getestet werden, auch wollte man uns wohl das Schicksal ersparen, «Froh noch im Todesstreich» zu enden. Nun steigerte die Musikpädagogik sich zum Sempacherlied «Lasst hören aus alter Zeit/von kühner Ahnen Heldenstreit,/von Speerwucht und wildem Schwertkampf,/von Schlachtstaub und heissem Blutdampf». Das Nazilied «Wir sind die jungen Schweizer,/gar heiss ist unser Blut», hatte die Tugend, mir endlich und für immer den Mund zuzusperren – aus Scham und Ekel.
Wenn schon eine Nationalhymne sein musste, warum konnte diese nicht das «Beresinalied» sein? Was sind wir im besten Falle? Brüder (und Schwestern). Was ist unser Leben andres als eine Reise in der Nacht?
→ Friede→ Klavierspiel→ Krieg→ Kriegsschuld→ Schlagen
«Hört, was das Moser zusammengeschludert hat. ‹Gestern liefen wir› – gemeint ist die Familie Moser, die Eltern, das Moserli und zwei Brüder –, ‹weil es schön war, von der Ringmauer ins Kunzenbad. Beim Kunzenbad angekommen, bellte der Hund, und Vater sagte, jetzt laufen wir auf den Heiternplatz, dort hatten wir Durst und tranken, und vom Heiternplatz liefen wir wieder in die Ringmauer. Fritzli musste hatschielen und schnuderte in den Nasenlumpen. Der Spaziergang hat mir fest gefallen.›» Raumer, das Gesicht abgewendet, schüttelt mit zwei spitzen Fingern das Aufsatzheft von Ruthli Moser aus, als ob es von Läusen wimmelte, und das Löschblatt trudelt übers Pult weg zu Boden. «Stellt euch die Mosers vor! Es ist Sonntag, und weilʼs schön Wetter ist, brechen sie, Vater voran, im Sturmschritt aus ihrem Loch in der Ringmauer ins Freie, rennen durchs Pomernquartier ins Kunzenbad, immer voran Papa Moser, dann das Moser und seine Brüder, zuhinterst keuchend Mutter Moser. Doch Moser père hat den Sonntag und das schöne Wetter im Nacken und rennt, die Familie auf den Fersen, auf den Heiternplatz. Dort langt man schweisstriefend an und lappt Wasser aus dem Brunnen. Nun könnten die Mosers verschnaufen und die Aussicht auf unsre schöne Stadt mit Mauern, Türmen, der Kirche und den behäbig in die Obsthänge gelagerten Villen geniessen. Sie aber sind nicht zu bremsen und rennen im Garacho durch die Pünten und über den Hirzenberg hinunter, um ja früh genug wieder in ihr Loch an der Ringmauer zu schlüpfen. Doch da bekommt Bruder Fritz den Schnupfen. Undsoweiter. Moser, du bist die stockdümmste Gans, die ich je habe mitschleppen müssen! Laufen, hochdeutsch, meint rennen, louffe heisst gehen, hatschiele niesen, iNaselumpe schnudere sich ins Taschentuch schneuzen! Oder entleert ihr Mosers eure Rotznasen in alte Scheuerlappen? Würd mich nicht wundern. Und du willst in die Sek? In der Oberschule werd ich dich anmelden, denn irgendwo muss man dich reif werden lassen, bis du von selbst aus der Schule faulst, und Herr Keller wird Gott danken, sobald er dich durchgeseucht hat. Wenn du so lang wie dumm wärst, du könntest über den Mond weg aus dem Dachkännel Wasser lappen, und wärst du so klein wie deine Intelligenz, Moserli, du könntest in jedes Mausloch schlüpfen und dort den Hochsprung üben! Huschhusch!» Raumer verscheucht einen bis zur Unsichtbarkeit verächtlichen Floh mit der linken Hand. «Nimm endlich dein Löschblatt vom Boden! Ja, die Mosers in ihrem Ringmauerloch: Du wohnst, wo du hingehörst. Das nächste Mal liegt ein sauberes Löschblatt im Heft, und du hast den Aufsatz fehlerlos abgeschrieben, sonst schreibst du ihn im Arrest noch ein drittes Mal. Da hast du dein Meisterwerk!» Raumer wirft das Heft vor Ruthli Moser, die unter ihm in der ersten Reihe sitzt, auf die Bank, dass es klatscht wie eine Ohrfeige. «Und heul nicht schon wieder! Heulen können sie, gescheiter werden nicht! Dumm, dümmer, am dümmsten – jetzt werden wir das Eigenschaftswort weiter steigern, schaut euch das Moser an: saudumm – dreckdumm – stinkdumm. Heb endlich deinen Schnuderlappen auf, dem ihr Mosers Löschblatt sagt!»
Читать дальше