1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Doch die Vergangenheit geistert herum, will sichtbar werden. Jahrhundertwende, Belle Époque, die Eleganz des pompösen Grandhotels, der Casinos, Tennisplätze, gestreiften Strandkabinen, prächtigen Badehotels und Sommervillen. Im herrschaftlichen Seebad Royan traf sich die Welt, Künstler, Dichter, ganz Paris und die Reichen aus Bordeaux. Meerbäder kamen in Mode, die Perle des Ozeans, wuchs und glänzte während Jahrzehnten, überstand den Ersten Weltkrieg ohne Kratzer, aber nicht den Zweiten. Das Ende der luxuriösen Epoche kam in drei Schritten. Die sozialistische Regierung hatte 1936 in Frankreich zwei Wochen bezahlten Urlaub eingeführt. Der Volkssturm auf die Seebäder brachten Royan die zweifelhaften Segnungen des modernen Massentourismus, der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 24. Juni 1940 nahm dem Badeort sodann allen Glanz. Aber endgültig beendet wurde die prunkvolle Vergangenheit mit der beinahe kompletten Zerstörung der besetzten Stadt durch alliierte Bomber am 5. Januar 1945.
Danach blieb nur ein resoluter Blick in die Zukunft. Etappenweise eine Stadt vom Reißbrett aufbauen, mutig im Zeitgeist der radikalen Moderne, weder geleitet von pragmatischer Ökonomie noch nostalgischer Restauration. Aber mögen muss man diesen Fünfzigerjahrearchitekturstil schon. Zum Beispiel der berühmte Front de Mer, Symbol des eigenwilligen Wiederaufbaus von Royan in den Fünfzigern, mittlerweile mehrmals renoviert, Bausubstanz eher schlecht, und unübersehbar auf allen Ansichtskarten. Zwei je fast zweihundert Meter lange Gebäude mit Appartements, nur drei Stockwerke hoch, die in einer elegant gezogenen Kurve der Linie des Meers folgen und die dahinter liegende Stadt abschirmen. Aber eine imaginäre Wasserlinie, die ganze Anlage liegt nicht mehr am Meer. Das kleine Stadtzentrum, symmetrisch angelegt, dominieren großstädtisch doppelspurige, um nicht zu sagen großspurige Boulevards.
Hier trifft man auf JP. Er ist seit zwei Tagen in Royan, ein heller, heißer Nachmittag. Er schlendert den menschenleeren Cours de l’Europe hinunter, kneift die Augen zusammen, hält von Zeit zu Zeit die schützende Hand davor. Die Hitze schmerzt in den Augen, er drückt sich in den schmalen Schattenstreifen, den die Häuser gnädig noch bieten, aber immer wieder gezwungen, einem Hindernis auszuweichen, einige Schritte in der Mitte des grellen Trottoirs zu gehen, mal sind es die leeren Stühle eines Cafés, die Leute sitzen drinnen, mal parkt einfach ein Auto auf dem Gehweg, normale Sache hier, keinen störts, alle tuns. Die verrückten Hochsommertemperaturen lähmen die Menschen, die noch auf Wärmesuche eingestellten Körper wissen nicht, wie das plötzliche Zuviel abwehren. Gereizt wischt er sich über die Stirn. Obwohl mit leichter Sommerhose und Kurzarmhemd bekleidet, leidet der aus der kühlen Schweiz Angereiste stärker als die Einheimischen.
Er zögert, unklar, in welche Richtung es ihn zieht. Es ist halb zwei, in Frankreich sitzt zu dieser Zeit bei Tisch, wer etwas auf sich hält, alles ruht, daran wird sich JP gewöhnen müssen. Er durchschreitet die breite Parkanlage, bemerkt die verlassenen Boulefelder unter Pinien und Akazien kaum und überquert die Fahrspur achtlos, bis er im Schatten der weißen Häuser auf der linken Seite angelangt ist. Man bemerkt sofort, dass er nicht zu den Zweitwohnungsbesitzern gehört, den frohgemuten Rentnern, die sich am Ende des Arbeitslebens in Royan eine kleine Wohnung leisten. Obwohl er etwa im gleichen Alter ist, fehlt ihm die lederne Sportlichkeit der junggebliebenen Senioren. Seine Kleidung zeigt aber auch keinerlei touristischen Missgriffe, er verkneift sich die Sonnenbrille, die ihn, Anfang Mai, ohne jeglichen Zweifel als Touristen deklassiert hätte. Er trägt eine mappenähnliche Umhängetasche und über die Schulter eine am Zeigefinger aufgehängte Wildlederjacke. Richtig, die gleiche Jacke und dieselbe Geste, nicht zu leugnen.
Einer, der in der Morgenkühle aus dem Haus gegangen ist und doch eindeutig kein Einheimischer, seinem Gang fehlt deren Zielstrebigkeit. Eine kaum merkliche Verzögerung beim Aufsetzen des Fußes, erwartungsfreudig, sofort bereit, die Richtung zu ändern, verrät den Neuangekommenen. Intensiver Schwebezustand, er saugt das Fremde ein, labt sich am Unbekannten, es sprengt das Herz, die Freiheit ist zum Greifen, ein Luftsprung und ein Jauchzer sind jetzt das einzig Richtige. Nur innerlich, versteht sich, JP ist Schweizer. Das bisschen Exotik des Badeorts, das bisschen salzige Meeresbrise, das reicht noch nicht, um fünfzig Jahre Wohlbenehmen und Selbstkontrolle abzuwerfen wie ausgetragene Kleider. Es wird noch etwas dauern.
JP bleibt unschlüssig am Ende des Cours de l’Europe stehen. Alle Geschäfte geschlossen, teilweise sogar die Gitter heruntergelassen. Auch die Grünanlage ist ausgestorben, sie wird gegen Ende des Boulevards schmaler, Sträucher ersetzen die Pinien, Parkplätze bald diese und schließlich beendet ihn ein erhöhtes Asphaltdreieck mit Verkehrsampel und Wegweisern. Weiße Stille liegt über dem weiten Platz vor der Post. Warum ist er überhaupt jetzt und hier in Royan? Gute Frage. Eigentlich zwei Fragen.
Jetzt: weil er ausgelaugt ist, zynisch, jeder Schultag wurde unerträglicher. Sein Antrag auf ein Freisemester, Sabbatical klingt besser, ist ihm anstandslos bewilligt worden. Wiedersehen am Montag, 18. August, zum neuen Schuljahr. Er fährt sich über die feuchte Stirn. Vieles muss sich in diesen knapp vier Monaten ändern. Diese Leere, nicht einmal Schülerarbeiten kann er mehr beurteilen, alle Kriterien sind ihm abhanden gekommen. Keine Ahnung, was gut ist, was ungenügend, wer ist so anmaßend, das wissen zu wollen. Ihm ist einfach scheißegal, was die Schüler schreiben, denken, nicht denken, nicht überlegen, nicht wissen. Was hat das mit ihm zu tun?
Eine Zeitlang kann man noch so tun als ob, man hat ja schließlich Expertise nach so vielen Jahren Berufstätigkeit, die Phrasen sprechen und schreiben sich von allein, schlängeln sich gekonnt in die Beurteilungen, die aus luftigen Satzmodulen bestehen, die man mal so, mal so aneinanderreihen kann. Glauben muss das keiner. Leider wird nach einiger Zeit das Unbehagen schwer, würgt dich, ja schneidet dir die Luft ab. Spuck es endlich aus. Dass du genauso oberflächlich und uninteressiert geworden bist wie deine Schüler. Von Jahrgang zu Jahrgang schlimmer, ewiges Lamento der Kollegen. Oder dass nichts mehr in deinem Kopf ist, keine Meinung zu den Dingen, selbst nicht, ob du Meinungslosigkeit gut oder katastrophal findest. Altersweisheit ist es bestimmt nicht. Es gab nur eins – weg. Auszeit. Eine unbekannte Umgebung verdampft zumindest für eine gewisse Zeit die breiige Langeweile, denn täglich sind unzählige banale Entscheidungen zu treffen, wenn alles neu ist, zum Beispiel, welche Straße er jetzt nehmen soll.
Endlich das Meer sehen. Wo liegt das Meer? Die blendende Helligkeit am Atlantik überrascht ihn auch diesmal wieder, grenzenloses Licht, es gibt keine hohen Gebäude, die Straßen offen, die Häuser weiß, über dem flachen Land der unbegrenzte Himmel. Keine Bergschranken. Als Schweizer ist man halt anfällig für die Weite. JP überquert zügig den breiten Boulevard.
Der erste Kurstag heute Vormittag hat sich ganz gut angelassen. In der Pause gab es Gelegenheit für den unvermeidlichen Smalltalk, eine kleine Kursgruppe mit acht Teilnehmern, drei männlichen, außer ihm noch ein Schweizer, Marco aus dem Tessin, und der Deutsche Sven, und fünf weiblichen, die Spanierin Gracia, eine etwas arrogant wirkende Mailänderin namens Chiara, zwei unkomplizierte Kanadierinnen aus Ottawa, Maureen und Pam, und die geschwätzige Monika aus Linz. Sie alle unterrichten Französisch an einem Gymnasium in ihrem Land, sie alle haben das Bedürfnis, ihr Französisch wieder à jour zu bringen, Fehler auszumerzen, die sich einschleifen, wenn man ständig nur mit Nichtfrankofonen spricht. Eine ganz angenehme Truppe, obwohl JP dieser Aspekt reichlich egal ist, ihm geht es nicht um neue Freundschaften, zudem ist er vermutlich einiges älter. Der Kurs dient bloß als offizielle Rechtfertigung für das Sabbatical, und wenn er dabei ein paar nützliche Sachen für den Unterricht lernt, tant mieux. Bis jetzt ist es allerdings mäßig spannend.
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