Ursula Hasler - Blindgänger

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Ein Mann erwacht nach einem Sturz im Krankenhaus und hat sein biografisches Gedächtnis verloren. Widerspenstig setzt er sich mit dem 'Andern' auseinander, der er zuvor gewesen sein soll, ein eher farbloser Französischlehrer an einem Gymnasium.
Frau und Tochter besuchen ihn – keine Erinnerung. Wie mag ihre Ehe gewesen sein, ihr Familienleben? Sein offenbar bester Freund, ein Lehrerkollege, erzählt von ihrer beider Frust und ihren Aussteigerträumen. In den Dateien auf 'seinem' Laptop macht er sich auf die Suche nach seiner Geschichte und verarbeitet auf Anraten des Arztes seine eigenen, ihm nun fremden Aufzeichnungen des vergangenen Sommers. Vor dem Unfall hat der Französischlehrer ein Sabbatical in Royan an der französischen Küste verbracht. Offenbar soll er dort in den letzten Kriegswirren geboren und als Waisenkind in die Schweiz gebracht worden sein.
Je mehr er über die Person erfährt, die er angeblich ist, desto weniger weiss er, ob er in deren Leben zurück will. Aber Frau und Tochter warten auf seine Rückkehr, der Arzt auf seine Erinnerungen …
"Blindgänger" ist ein überraschender Roman über die Verweigerung gegenüber der Geschichte – der kleinen biografischen wie der großen geschichtlichen -, der zurückführt in einen Sommer am Atlantik und in die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs.

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Ein Mann erwacht nach einem Sturz im Krankenhaus und hat sein biografisches Gedächtnis verloren. Widerspenstig setzt er sich mit dem ‹Andern› auseinander, der er zuvor gewesen sein soll, ein eher farbloser Französischlehrer an einem Gymnasium.

Frau und Tochter besuchen ihn – keine Erinnerung. Wie mag ihre Ehe gewesen sein, ihr Familienleben? Sein offenbar bester Freund, ein Lehrerkollege, erzählt von ihrer beider Frust und ihren Aussteigerträumen. In den Dateien auf ‹seinem› Laptop macht er sich auf die Suche nach seiner Geschichte und verarbeitet auf Anraten des Arztes seine eigenen, ihm nun fremden Aufzeichnungen des vergangenen Sommers. Vor dem Unfall hat der Französischlehrer ein Sabbatical in Royan an der französischen Küste verbracht. Offenbar soll er dort in den letzten Kriegswirren geboren und als Waisenkind in die Schweiz gebracht worden sein.

Je mehr er über die Person erfährt, die er angeblich ist, desto weniger weiss er, ob er in deren Leben zurück will. Aber Frau und Tochter warten auf seine Rückkehr, der Arzt auf seine Erinnerungen …

«Blindgänger» ist ein überraschender Roman über die Verweigerung gegenüber der Geschichte – der kleinen biografischen wie der großen geschichtlichen –, der zurückführt in einen Sommer am Atlantik und in die Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs.

Foto Ayșe Yavaș Ursula Hasler ist in Schaffhausen aufgewachsen und lebt heute - фото 1

Foto Ayșe Yavaș

Ursula Hasler ist in Schaffhausen aufgewachsen und lebt heute in Baden. Sie studierte in Zürich Germanistik und Psychologie. Aus einem Studienjahr in Frankreich wurden in der Folge fast zehn Jahre Leben und Arbeiten in Paris. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitete sie als Übersetzerin und Dozentin an der Dolmetscherschule Zürich. Sie ist heute als Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig und hat zu wissenschaftlichen Themen publiziert. «Blindgänger» ist ihr erster Roman.

Ursula Hasler

Blindgänger

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Die nette Frau, die behauptet, meine Frau zu sein, hat mir gestern das Laptop ihres Mannes mitgebracht.

«Typische Ausdrucksweise von Marty», habe ich an den Rand meiner Gesprächsnotizen unserer ersten The­ra­­piesitzung gekritzelt. Jean-Pierre Marty war ohne Zwei­fel mein sonderbarster Fall, und an eigenartigen Fällen mangelte es mir beileibe nie.

In weiser Voraussicht hatte ich kraft meiner Auto­­rität als leitender Arzt der Klinik Rychenegg den Fall Jean-­Pierre Marty zur Chefsache erklärt. Zu Beginn deutete nichts darauf hin, dass seine Krankengeschichte in irgendeiner Weise ungewöhnlicher wäre als vergleichba­re Anamnesen von Gedächtnisverlust. Im Ge­genteil, meine Einschätzung der Heilungschancen war aufgrund der neurologischen Abklärungen vorsichtig optimistisch. Dann nahm die Geschichte eine merkwürdige, für mich bis heute kaum nachvollziehbare, geschweige denn medi­zinisch erklärbare Entwicklung. Ich bin auf der ganzen Linie ratlos, was beim Fall Marty wahr ist, ob irgendetwas wahr ist.

Die erste Sitzung war am Dienstag, 9. September 2003, auf zehn Uhr angesetzt, in meinem Büro im alten Ost­flügel der Klinik, in dem jegliche Assoziation mit einer ärztlichen Praxis sorgsam vermieden wird, ein herrschaftlicher Raum mit hohen Fenstern, durch die an diesem Vormittag eine kräftige Septembersonne drängte, in Schach gehalten von unästhetischen, aber äußerst praktischen Hängestoren, die eine subtile Regelung des Lichteinfalls ermöglichen.

Beim Eintreten fiel Martys Blick sogleich auf die Couch, von mir zwar nie gebraucht, aber doch als analytisches Requisit vorhanden. Er wünsche ein gleichberechtigtes Gespräch, face à face.

Ich bat ihn, im Sessel mir gegenüber Platz zu nehmen.

Er sei mit dem festen Vorsatz zur Sitzung gekommen, sich nicht in therapeutische Spielchen verwickeln zu lassen, er wolle klare Antworten auf schwierige Fragen. Ob ich als Psychiater in der Lage sei, seine Lage zu erfassen?

Ich schluckte, die Professionalität gebot mir, vorerst zu schweigen.

Marty sprach jedoch nicht weiter, er saß im Besuchersessel mit Blick auf das Fenster, sah mich unverwandt an und bat nach einiger Zeit, die Plätze zu tauschen.

Er brachte mich ein erstes Mal aus dem Konzept.

Bitte schön, ich erhob mich, schritt um den breiten Glastisch herum und überlegte fieberhaft, welches Spiel er zu spielen beabsichtigte. Nach dem Platzwechsel saß Marty mir gegenüber, hinter dem Schreibtisch auf dem ledernen Therapeutensessel, meinem Sitz, und ich befand mich erstmals auf dem leicht tieferen Klientensessel, eine wesentliche Kleinigkeit. Ich sah Marty und sah ihn nicht, sah auf der andern Seite der spiegelnden Tischplatte im Gegenlicht einen Schattenriss, eine dunk­le Sil­hou­ette.

Wie weiß man, wer man ist?

Marty hatte eine Weile gewartet, sich zurückgelehnt und die Frage gestellt: Wie weiß man, wer man ist? Was, wenn mit dem Gedächtnis auch das Ich ausgelöscht ist?

Ich schwieg vorsichtshalber, die Fragen stellt eigentlich der Therapeut. Aber auf dessen Sessel saß jetzt Marty.

Hmh, wer kann schon von sich behaupten zu wissen, wer er ist? Die Identität, vielleicht ist sie ein Sammelsurium der Spekulationen über die Bilder, die andere von einem haben.

Es klang wenig überzeugend, ich nahm einen neuen Anlauf.

Eine psychologische Theorie besagt, dass die Identität der Filter ist, der entscheidet, wie Erlebnisse als Erinnerungen gespeichert werden.

Marty zuckte die Schultern. Eben, dann verschwinde logischerweise bei Gedächtnisverlust auch die damit verbundene Identität. Er habe keine mehr.

Seine Hände schoben die Patientenakten auf meinem Tisch umher. Die Sinnlosigkeit der entstehenden Unordnung machte mich ganz nervös.

Wie war einer, der sich so kleidete wie der Besitzer dieser Kleider? Marty zupfte nun an seinem Hemd herum.

Jeden Morgen betrachte er, was ihm in den Kleiderschrank gehängt worden war, und wähle aus. Heute das hellblaue Leinenhemd und die dunkelbeige Twill­hose, die Hosen seien ihm übrigens alle ein bisschen zu weit. Da hingen noch feine Cordhosen mit Bundfalten und eine Jeans, weitere unifarbene Hemden, zwei feine Wollpullover, dunkelblau mit Rundausschnitt und dunkelgrün mit V-Ausschnitt, und eine braune Wildlederjacke. Auch drei Schlafanzüge aus bestem Baumwolljersey. Unterwäsche und Socken seien nicht weiter nennenswert. Dass er hier nicht in rotglänzendem Trainingsanzug und klotzigen Sportschuhen mit drei Streifen vor mir sitze, ich muss erstaunt den Kopf gehoben haben, ja, solche Exemplare seien ihm in den Gängen begegnet, das beweise doch nur, abgesehen davon, dass solches nicht im Schrank hänge, dass er, oder müsste er vielmehr sagen: der Besitzer dieser Kleider, damit die Zugehörigkeit und Identifikation mit einer bestimmten sozialen Gruppe signalisieren wolle.

Meine Frage, ob er sich denn unwohl fühle in diesen Kleidern, wusste er nicht gleich zu beantworten.

Keine Gefühle, nein. Ohne Vorstellung einer Iden­tität wisse er schlicht nicht, welcher Kleiderstil ihm entsprechen würde. Also sei es egal, wie er sich zurzeit kleide, er könne genauso gut die Kleider dieses Gymnasiallehrers Marty tragen, offensichtlich ein Feingeist mit ganz gutem Geschmack. Vielleicht auch derjenige seiner Frau.

Marty schwieg, und ich nutzte die Gelegenheit für einen den konventionellen Standard wieder etablierenden Platzwechsel. Auf dem vertrauten Sessel und mit der Sicherheit der hergestellten Ordnung, auch die Patien­tenakten säuberlich zurück auf einer Beige, lenkte ich den weiteren Verlauf der Therapiesitzung, wie es sich gehörte.

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