Die Tücke der Gewohnheit ist, dass sie das Leben erleichtert und einen blind macht. Jahrelang hat er sich mutlos nur im gewohnten Alltag bewegt, er ist ein Langweiler gewesen und die Zeit vorübergerast, nein falsch, es gab keine Zeit mehr, auf jeden Fall kein Zeitgefühl. So kommt man sich selbst abhanden. Man hat kein Sinnesorgan für Zeit. Man sieht nur die Millimeter oder Zentimeter, die Uhrzeiger auf dem Ziffernblatt sichtbar zurücklegen. Er verabscheut Digitaluhren, sie zeigen nur Zahlen, keine Bewegung mehr, du siehst nicht, wie die Zeit von Stunde zu Stunde fortschreitet.
Schluss. Er steht auf und giesst den schwarz konzentrierten Kaffeerest aus dem Glaskrug in die henkellose Tasse. Er könnte zum Beispiel: Beim Gehen durch Straßen das vorher nie Bemerkte bemerken. Vielleicht lässt sich das Gehirn so trainieren, lassen sich die Erkennungsmuster so auszuschalten, wie er es mit den Wörtern kann. Sie immerzu wiederholen, bis sich jeglicher Sinn auflöst. Etwas anschauen, anschauen, anschauen, bis man es nicht mehr erkennt. Bis der Stuhl zu einer bedeutungslosen Konstruktion aus Holz wird. Dekonstruktion der Bedeutung auch beim Sehen.
Auf der Küchenuhr, ebenfalls Relikt aus den Fünfzigern, gehen die Zeiger unaufhaltsam ihre Wege, die Zeit einer kompletten Umdrehung auf dem Ziffernblatt, bald zehn Uhr. Bon, was steht heute an?
An diesem außerordentlichen Sitzungstermin am Freitagabend, 19. September 2003, saß Marty pünktlich um fünf mir gegenüber, ordnungsgemäß auf dem Klientensessel, und erkundigte sich leicht betreten, ob ich Zeit gefunden hätte, den Text zu lesen. Ja, ich wies auf die vor mir auf dem Schreibtisch liegenden Ausdrucke und sah ihn auffordernd an, erleichterte ihm aber in keiner Weise den Einstieg in das von mir gefürchtete Eingeständnis, er sei der Aufgabe nicht gewachsen.
Es war ihm sichtlich peinlich. Er komme nicht weiter. Er habe sich völlig verheddert in den Aufzeichnungen. Dann noch diese Datei mit dem fremden Manuskript. Es bringe nichts. Es funktioniere nicht. Es könne nicht funktionieren. Nichts geschehe in seinem Kopf.
Er wartete auf Einspruch von mir, der ihm Widerspruch und Gegenargumente ermöglicht und die unangenehme Entscheidung auf uns beide verteilt hätte.
Ich konzentrierte mich auf die Blätter vor mir, ich höre.
Also fuhr er fort, unvorstellbar mühsam sei das Verarbeiten der Tagebuchnotizen. Dieses fremden Kerls. Voraussetzung sei doch, dass er sich mit dem Verfasser der Aufzeichnungen identifiziere. Der aber bleibe ein kompletter Fremdling, nicht mal in der Fantasie gelinge es ihm, in dessen Haut zu schlüpfen. Seine Aufgabe sei, sich den Inhalt anzueignen und wiederzugeben, wie ihm beliebe, nicht wahr. Genau das schaffe er nicht. Unmöglich. Mit der Zeit, ich hätte das bestimmt bemerkt, habe er mehr oder weniger nur noch abgeschrieben, was diesem Marty in Royan alles durch den Kopf ging. Und das sei ja wohl nicht der Zweck der Übung.
Ich sah kurz auf, nickte.
Schon lange bereue er seine Einwilligung, ich solle ihm bitte nicht mit den Sprüchen kommen, gerade in den Widerständen liege der Schlüssel zum verschütteten Zugang zu seinem früheren Leben.
Ich verkniff mir ein Schmunzeln.
Er gebe sich wahrhaftig alle erdenkliche Mühe. Sich aus den kargen, oft nur stichwortartigen Einträgen vorzustellen, was sich abgespielt hatte, nein, abgespielt haben könnte, sei äußerst anstrengend. Nicht machbar. Ihm fehlten Stoff, Erfahrung, Gefühle, Bilder. Höchst selten einmal laufe es wie von alleine, wenn die Sätze in die Tastatur fließen, als wäre das Denken ausgeschaltet. Meist aber, fast immer eigentlich, ende der Versuch vor einer mächtigen Wand. Da quere eine weiße Mauer sein Gehirn mit einer Selbstverständlichkeit, die keine Rechtfertigung brauche, unüberwindbar. Er könne sich nicht in diesen Jean-Pierre Marty hineinversetzen. Geschweige denn sich mit ihm identifizieren. Er wolle nicht.
Ich schwieg längere Zeit. Meinte dann, ich würde das selbstverständlich akzeptieren.
Die erwarteten und nun ausbleibenden Einwände und Überzeugungsversuche meinerseits brachten Marty aus dem Konzept. Seine Widerstandsenergie, die er im Hinblick auf dieses Gespräch mit mir kräftig aufgebaut hatte, fiel zusammen. Er war bereit, auf neue Vorschläge meinerseits einzugehen, als Wiedergutmachung für seine Unzuverlässigkeit, schließlich brach er sein Versprechen.
Ich setzte ihm meinen Vorschlag auseinander. Am Dienstag, in vier Tagen also, finde ja unsere reguläre Sitzung statt. Seine Texte, ich hielt die Blätter in die Höhe, hätten mich beeindruckt, ob er bereit wäre, zumindest für einige Tage, probehalber sein eigenes Journal zu führen, er über sich jetzt hier in der Klinik, und zwar in einer Form, welche die anschließende Lektüre durch mich erlaube.
Ich musste Marty irgendwie dazu bringen, die selbst auferlegte Fixierung zu lösen, dass er sich notwendigerweise mit «dem Andern» zu identifizieren habe, in seine Haut schlüpfen müsse, wie er es selbst ausgedrückt hatte. Der aktuelle Marty mit Amnesie sollte vielmehr, ausgehend von seiner jetzigen Verfassung, die Aufzeichnungen seines früheren Ichs frei umgestalten. Ich hoffte, dass er durch das Schreiben eines eigenen Journals mit unmittelbaren Reflexionen des gegenwärtigen Ichs die notwendige Souveränität über seine alten Tagebücher gewinnen würde.
Marty blickte mich misstrauisch an, in seinem Gesicht standen deutliche Zweifel, was das bringen solle, welche therapeutische Manipulation ich damit wieder anzuwenden gedachte. Er überlegte lange. Ohne Vorstellung einer eigenen Identität sei es ihm nicht möglich, ein Tagebuch in der Ich-Form zu schreiben, in einem eigenen Journal noch weniger als bei dem andern in Royan. Kein innerer Bezugspunkt da. Es gehe höchstens mit der Distanz der Außenbetrachtung. Er willigte unter der Bedingung ein, im Stil seiner eigenen Aufzeichnungen völlig freie Hand zu haben, was ich ihm selbstverständlich zugestand.
Vier Tage später, rund eine Stunde vor unserer Sitzung, was mir die Lektüre gerade knapp ermöglichte, warteten die ersten eigenen, vom Sekretariat ausgedruckten Journalseiten von Marty auf meinem Tisch. Das Schreibproblem löste sich unerwartet auf glückliche Weise auf.
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