Rechts erblickt er den berühmten Front de Mer. Die Gebäude wirken auch nach fünfzig Jahren sehr modern, er nähert sich über die Promenade, eine gedeckte Passage führt der ganzen Länge entlang, überall mit Geschäften, Touristenfallen und billigen Snacks verbaut. Er schlendert in dem engen Markt von Geruch zu Duft und umgekehrt, Frittiertes, Waffeln, Räucherstäbchen, Meeresfrüchte, wieder Fast Food, das Getümmel in der Sommersaison will er sich lieber nicht ausmalen. Es wäre an der Zeit, die Liste hervorzuholen, es gibt noch einiges abzuarbeiten.
Das Telefon in der Hosentasche piepst kurz, SMS von Nadine, französischtest sosolala. wann kommst du zurück.
Er ist augenblicklich empört, was soll das. Jahrelange Vatererfahrung ermöglicht ihm, sosolala sofort mit ungenügend zu übersetzen. Es ist hart, eigentlich kaum zu ertragen, dass die Tochter des Französischlehrers eine Niete in Französisch ist. Er starrt auf das Telefon in seiner Hand, der Ärger verdrängt augenblicklich die Gedanken, die tausend Kilometer zwischen ihnen nützen nichts. Das Gymnasium ist eine permanente Streitquelle zwischen Vater und Tochter, sein langjähriger Arbeitsort und für ein paar Jahre die Schule von Nadine. Vielleicht, sie schlingert ständig knapp an der Grenze zur Nichtbeförderung in die nächste Klasse. Am meisten wurmt JP das heuchlerische Verständnis der Lehrerkollegen.
Tief durchatmen, ruhig bleiben, Urlaub ist auch Waffenruhe, kein Kommentar zum Französischtest. Er tippt ungelenk, bleibe 3 monate, das weißt du doch! du kommst mit mama mitte juli hier nach r, sommerferien.
Ihre Antwort kommt postwendend: r??
Ruhig bleiben, aufregen lohnt sich nicht, die Tochter hört immer erst zu, wenn ihr die Folgen nicht passen. royan, westküste frankreich, antwortet er kurz.
Diesmal dauert es einige Minuten mit ihrer Antwort: weiß noch nicht ob ich mitkomme.
Jetzt ist er stocksauer, die Ferienpläne haben sie ausführlich diskutiert und familiendemokratisch festgelegt. Er schaltet das Telefon aus.
Und jetzt wohin? Das kurze Intermezzo mit der Tochter hat ihm die Stimmung zerstört, die häuslichen Spannungen sprühen Funken in seinen Gedanken. Der stehengebliebene JP ist ein Hindernis im Passantenstrom und wird ständig angerempelt. Schon wieder schubst ihn jemand, zieht ihn am Arm. Lachend steht Gracia hinter ihm, die Kollegin aus Valencia, neben ihr hat er heute Morgen im Kurs gesessen, sie ist die temperamentvollste der kleinen Gruppe. Er strahlt, welch reizender Zufall, er ist hocherfreut über die Ablenkung. Sie setzen sich in ein Café an der frischen Luft zwischen den beiden Gebäudehälften des Front de Mer.
Was sie davon halte? Er macht eine ausholende Geste, die alles um sie herum einschließt, natürlich sprechen sie Französisch. Aufregend, Gracia ist beeindruckt von der riesigen Anlage, ihre Begeisterung erstaunt ihn, ihm kommt typisch schweizerisch nur Kritik in den Sinn. Er blättert in ihrem Führer und findet tatsächlich alte Fotos des Front de Mer kurz nach der Fertigstellung Ende der Fünfzigerjahre, damals eine elegante offene Galerienpromenade. Und heute alle Arkaden verschandelt mit Vorbauten und billigem Touristenkommerz.
Gracia sieht ihn verständnislos an, das Gewimmel störe sie nicht, im Gegenteil, alles wunderbar. Zu gern lässt er sich von ihrem Enthusiasmus anstecken. Man plaudert über die jeweiligen Unterkünfte. Gracia mietet ein Zimmer bei einem älteren, charmanten Ehepaar, ganz in der Nähe, ein ruhiges Quartier hinter der Kirche, mit Frühstück und wenn sie wolle, pension complète, aber zwei warme Mahlzeiten am Tag schaffe sie nicht, wieder lacht sie hell, sie wäre noch vor Ende des Kurses kugelrund.
Ein leichter Wind vom Meer schiebt regelmäßig Wolken vor die Sonne, wenn sie sich zeigt, brennt sie sofort, die Sonnenbrille ist in Gegenwart von Gracia angebracht, bei der Spanierin ist sie ohnehin fester Körperbestandteil, wenn nicht auf der Nase, dann im Haar. Gracia wedelt sich mit der Getränkekarte Luft über die erhitzten Wangen, bei uns haben sie angekündigt, dass 2003 ein Jahrhundertsommer werde. Selbst sie als Spanierin stöhnt, jetzt schon Hochsommerhitze, wie wird das bloß im Juli. Er hat seinen Stuhl längst unter den Sonnenschirm gezogen, keine Chance, mit der Südländerin in der brütenden Sonne mitzuhalten.
Seine schlechte Laune ist weggeblasen. Die Aufmerksamkeit eines attraktiven weiblichen Wesens genügt, und es liegt Übermut in der Luft. Man tratscht über dies und jenes, die Kollegen im Kurs, Lehrererlebnisse von zu Hause, und meint ganz anderes. Er fragt sich, wie lange das Kaffeetrinken schicklicherweise dauern darf. Ihr auf keinen Fall lästig werden. Verstohlen blickt er auf die Uhr, beinahe vier Uhr, der halbe Nachmittag wäre geschafft. Er zögert den Aufbruch hinaus, der Tag ist noch lang, es drohen einige leere Stunden.
Irgendwann kommt der unvermeidliche Moment, Gracia hat Besorgungen zu erledigen, er hat ebenfalls noch einiges auf der Liste, zum Beispiel Internetcafé. Ach, es eilt ja nicht mit seinen Recherchen. Gerade ist das Leben licht und heiter. Sie stehen auf, Küsschen auf die Wange links rechts, zwei oder drei oder vier, das ist offensichtlich landesspezifisch, ein kurzer Augenblick neckischer Verwirrung, bereits vertraut und leicht verlegen trennt man sich. Beschwingt schreitet er mit ausholenden Schritten über die Promenade Richtung Meer. Mannomann, seit Jahren nicht mehr so als Kerl gefühlt. Das erhoffte neue Leben beginnt.
Ein Uhr nachts, Fenster weit offen, ein kräftiger warmer Wind rauscht, Tauben gurren verschlafen in den Pinien, wieder dieses Knacken in der Zimmerdecke, woher bloß bei einem Betonbau aus den Fünfzigern. Geräusche voller Magie. Schwerelos, weit, alles ist leicht. Es wird gelingen. Nennt man einen solchen Zustand glücklich? Er weiß es nicht, seit Jahren nicht mehr gespürt.
Erst zwei Tage ist es her, seit er kurz vor Mitternacht, erschöpft von der zwölfstündigen Bahnfahrt, in Royan angekommen ist und erwartungsfreudig die Wohnungstür geöffnet hat, der Schlüssel lag wie vereinbart, und wie hätte es anders sein können, unter der Fußmatte. Die Unterkunft ist günstig, sie befindet sich in einem der typischen zweistöckigen Immeubles aus den Fünfzigern und sie hat ihm, dem ironischen Romantiker, auf Anhieb gefallen.
Die Wohnung könnte glatt als Mustereinrichtung für die Fünfzigerjahre in einem Museum stehen. Die Stube füllen ein Esstisch, wichtigstes Möbelstück in einer französischen Wohnung, und ein mächtig geschwungenes Buffet. In einer Ecke wartet ein Lehnstuhl mit Spitzendeckchen dort, wo der Kopf mit schuppigem Haar anzulehnen pflegt, ausgerichtet auf den Servierwagen mit dem Fernseher drauf, er zweifelt, ob das Ungetüm bereits Farben kennt. Ein abgewetztes Perserimitat deckt schonend das hübsche alte Parkett aus schmalen Eichenbrettchen. Die Tapeten mit ihrem geometrischen Design in Braunorange und Grün sind vermutlich in den frühen Siebzigern zum letzten Mal erneuert worden.
Sorgfältig über die Wohnung verteilt hängen Kunstdrucke, Monets Seerosenteich, van Goghs Sonnenblumen, Rosenbilder, zwei düstere Stillleben und ein echtes Ölbild mit flammendem Sonnenuntergang hinter schwarzer Kirchturmsilhouette und schwankenden Schiffsmasten davor. Ohne Zweifel Royan, gemalt von einem lokalen Hobbykünstler. Die kleinen Schlafzimmer vollgestopft je mit einem dunklen Eichenschrank voller rustikaler Schnitzereien, die sich an Bettstatt und Nachttischchen wiederholen. Zweifel haben ihn beim Anblick der sogenannten französischen Betten beschlichen, je eins in jedem Schlafzimmer und kaum breiter als eins dreißig, unvorstellbar, zu zweit darin zu schlafen.
Wie nicht anders zu erwarten, hat er dann auch miserabel geschlafen, die müden Sprungfedern im Bettrost gaben unter seinem Gewicht nach und ließen ihn in einer tiefen Kuhle liegen, jede Spirale unter der dünnen Matratze drückte wahlweise in den Rücken oder in die Rippen. Aber er verfügt ja über Auswahl. Gestern Nacht hat er das zweite Bett getestet und sich, da leicht weniger gerädert heute Morgen, in diesem Zimmer häuslich eingerichtet. Er hat bis Mitte Juli Zeit, das Bettproblem zu lösen, dann kommen Frau und Tochter.
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