Und wenn ihm nun das Passwort nicht einfalle, wo speichert das Gehirn ein Passwort?
Nicht nachdenken, einfach tun, schärfte ich ihm ein, Routinebewegungen seien direkt mit dem prozeduralen Gedächtnissystem verbunden.
Also steckte er geschäftig, Spiel der Muskeln gegen Leere im Gedächtnis, das Netzkabel ins Laptop und in die Steckdose, hängte die Maus an, drückte auf den Startknopf, starrte auf die herunterlaufenden Programmierzeilen, die Einlogmaske, tippte Namen und Passwort ein, ohne Nachdenken, es glückte, er war erleichtert.
Bloß verunmögliche der Trick, dass er das Passwort jetzt kenne.
Ich schob ihm einen Zettel zu, hatte ihm beim Einloggen über die Schultern gesehen, außergewöhnliche Situationen legitimierten leicht unkorrekte Methoden. Er könne es ja jetzt erneut ändern. Marty grinste dankbar.
Das Desktopbild zeigte eine lang gezogene Meeresbucht mit kargem Strand und mächtiger Düne dahinter. Im Sand lagen verschiedene Ordner verstreut, er entschied sich für ROYAN und klickte den Ordner an. Er bemerkte nicht mehr, wie ich das Zimmer verließ.
Auch das prozedurale Gedächtnissystem konnte ich somit abhaken, funktionierte alles. Obwohl es laut seiner Frau in den letzten Monaten vor dem Sturz keinerlei außergewöhnliche Vorkommnisse gegeben hatte, abgesehen von seinem Weiterbildungsaufenthalt in Frankreich, war auch ich je länger je mehr von einer psychogenen Ursache von Martys Amnesie überzeugt.
Ich kann mittlerweile auf über zwanzig Jahre ärztliche Tätigkeit in der renommierten Privatklinik Rychenegg zurückblicken, davon die letzten zehn Jahre als Chefarzt der psychiatrischen Abteilung, eine Position, die ich, daran ist kaum zu zweifeln, meiner Expertise für alle Formen von Störungen des Erinnerungsvermögens verdanke. Seit meiner ersten Begegnung noch als Oberassistent mit einer Amnesiepatientin faszinieren mich die Kapriolen des Gehirns. Als Psychiater und Psychotherapeut begegne ich dem menschlichen Gehirn mit größtem Respekt, und als Amnesiespezialist unterschätze ich in keiner Weise dessen Fähigkeiten, bei Bedarf passende Realitäten zu erschaffen oder störende Wirklichkeiten auszuschalten. Auch mein Psychiatergehirn verdrängt erfolgreich, wie anmaßend es doch ist, mit dem eigenen Denkwerkzeug das Funktionieren dieses Werkzeugs bei andern beurteilen zu wollen. Welch Größenwahn des menschlichen Gehirns, sich selbst verstehen zu wollen.
Meine intensive Beschäftigung mit den Manipulationen der Gedächtnisfunktionen durch das, was wir Bewusstsein nennen, trug mir in der Folge zahlreiche, von Kollegen in Kantonsspitälern überwiesene Amnesiefälle zu. Die im Laufe der Jahre entwickelte Spezialisierung fand ihren Niederschlag auch in meinen stark beachteten Fachartikeln zum Thema. Die Klinik Rychenegg gilt nicht zuletzt dank meines Renommees in Fachkreisen, ich darf dies in aller Bescheidenheit anmerken, landesweit als erste Adresse für komplexe Fälle jeglicher Art von funktionellen Gedächtnisstörungen. Zum großen Bedauern der Klinikleitung leider kein lukrativer Geschäftszweig.
Rychenegg erlebte in den vergangenen Jahren eine starke Expansion. Das Klinikmanagement hatte, gemäss Eigeneinschätzung, dank weitsichtiger Marketingstrategie auf dem boomenden Markt psychosomatischer Erkrankungen und Stresssyndrome, man denke an Burn-out, rechtzeitig in ein Image von Exzellenz investiert. Oder um es mit den Worten der in unserer Institution ein- und ausgehenden Consultants auszudrücken: Als Privatklinik ohne öffentlichen Leistungsauftrag fokussieren wir ärztliche Dienstleistungen auf psychische Störungen mit hoher Renditeerwartung. Die Behandlung meiner unrentablen, aber medizinisch interessanten Amnesiefälle rechtfertige ich gegenüber dem Direktor durch Querfinanzierung mit einträglicheren Therapien. Und auch diese gut zahlende Klinikgäste sind schließlich Patienten, so jedenfalls bringe ich meine idealistische Bedenken jeweils erfolgreich zum Schweigen.
Die zweite Sitzung, an der ich mich zu meinem ziemlich ungewöhnlichen Therapievorschlag hatte hinreißen lassen, fand eine Woche später wiederum in meinem Büro und wiederum um zehn Uhr statt.
Marty brachte ein Notizheft in der Art von Schülerheften mit. Hausaufgaben erledigt dank intensiver Gespräche mit der Frau und dem Mädchen, ob ich zuerst die Fakten oder die gesammelten Bemerkungen zur Persönlichkeit von Jean-Pierre Marty hören wolle.
Die Fakten.
Er blätterte kurz im Heft und schob es mir mit der betreffenden Seite geöffnet zu.
Ob er es bitte laut lesen würde? Ich wollte auf feinste Veränderungen in Stimme und Intonation achten.
Marty überflog seine Notizen, obwohl er sie bestimmt auswendig kannte, und räusperte sich so gründlich, dass das anfänglich verhalten kratzende Geräusch sich bald zu einem veritablen Husten auswuchs. Er las mit reichlich belegter Stimme.
– Jean-Pierre Marty, geboren angeblich am
31. März 1945, tatsächlicher Geburtstag und -ort
unbekannt, französisches Kriegswaisenkind, adoptiert von Hanspeter und Elisabeth Marty
– erfuhr erst als Dreißigjähriger durch Zufall, dass adoptiert
Er blickte auf, die Frau habe ihn irgendwie lauernd beobachtet, als sie das erzählte, als habe sie einen Erinnerungsdurchbruch erwartet, natürlich vergeblich.
Ich bat ihn fortzufahren.
– Kindheit in Murten, Vater Direktor der örtlichen Kantonalbank, Mutter Hausfrau, aufgewachsen mit vier Jahre älterem Stiefbruder Daniel Marty, leiblicher Sohn von Hanspeter und Elisabeth Marty
– Vater 1993 gestorben
– 1965–73 Studium, Romanistik und Geschichte
an der Universität Bern, Abschluss mit Doktorat, erste Stellen als Hilfslehrer an Gymnasien in Bern und in Biel, 1980 Wahl zum Hauptlehrer für Französisch und Italienisch an der Alten Kantonsschule Aarau. Tätig dort als Gymnasiallehrer bis heute
– Verheiratet seit 1983 mit Annet Uttenberg, geb. 25.11.1953 (verbürgt!) in Hamburg, hat Betriebswirtschaft studiert, leitet das Marketingteam
bei einer mittelgroßen Softwarefirma in Aarau, kennengelernt im September 1979 bei der Weinlese in Südfrankreich, Frau zog 1982 in die Schweiz
– 19. Oktober 1986 Geburt von Nadine, einziges Kind (warum keine weiteren?)
– Familie wohnt seit Sommer 1987 in Einfamilienhaus, alternative Wohnsiedlung, in ehemaligem Bauerndorf, heute zersiedelter Vorort, enge, zuverlässige (??) Nachbarschaft
– wichtig die letzten Monate: drei Monate Weiterbildungsurlaub von Mai bis Anfang August in Royan, französische Atlantikküste, Auszeit, wollte über den Atlantikwall und die deutsche Besatzungszeit in Frankreich recherchieren. Besuch der Frau ab Mitte Juli und gemeinsame Heimreise. Verbrachte die Tage bis Beginn des neuen Schuljahres mit Unterrichtsvorbereitungen
– Sturz am Freitag, 15. August (letzter Ferientag, Montag, 18. August Schulbeginn – Zusammenhang?)
Nach dem anfänglichen Husten vermochte ich keine Regung mehr aus seiner Stimme herauszuhören, Marty las die Angaben zu seinem Leben unbeteiligt, beinahe gelangweilt.
Ein fades Leben, er frage sich, ob es sich lohne, die Erinnerungen dieses Langweilers zu finden, ob es überhaupt etwas zu finden gebe. Das einzig Bemerkenswerte vielleicht die unbekannte Herkunft, ein ziemlich auffälliges Detail in dieser banalen Biografie.
Ich ging nicht darauf ein. Wie das Gespräch mit seiner Frau denn verlaufen sei?
Während er vom letzten Besuch seiner Frau erzählte, spielten seine Hände unaufhörlich mit dem Notizheft, rollten es ein, ließen es dank sperrigem Material wieder aufspringen, drehten den Zylinder wieder enger, er schob die Rolle von der linken in die rechte Hand und zurück, unaufhörlich.
Sie hätten ins Städtchen spazieren können, er war schließlich nicht in einer geschlossenen Anstalt. Jedoch die Vorstellung von Menschenmengen sei ihm nach wie vor unerträglich. Jegliche Situation draußen im Leben sei eine mögliche Ursache für Panik, er wisse nie, ob er intuitiv richtig reagieren würde. Sie seien also im Klinikpark spazieren gegangen, schlenderten langsam über die Kieswege, auch der Park hielt am frühen Nachmittag Siesta, weder Angestellte, die jetzt ihre übliche lange Mittagspause hielten, waren zu sehen noch andere Gäste, er halte sich an die offizielle Namensregelung, die hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Die Wege gehörten ihnen.
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