Dachte Klee an etwas Spezielles, als er die Sportseite der «National-Zeitung» wählte? Oder war es ihm ganz gleichgültig? Und dass es die Seite 13 war? Höchstwahrscheinlich ließ Klee sich nicht von esoterischen Vorstellungen über die 13 einfangen. Mied Klee die Seite 5? Die 5 verbindet in der Tat die teilbare 2 mit der unteilbaren 3. Auch in der freimaurerischen Kabbala bezeichnet die 5 die weibliche Welt: 2 ist die Frau und 3, die vollkommene Zahl, der Mann. 5, die Kombination der ersten geraden und der ersten vollständigen ungeraden Zahl, wäre demnach das weibliche Element des Paares, das befruchtete Weibliche, die Zahl der Venus als Göttin der befruchtenden Vereinigung, der zeugenden Liebe, Archetyp der Erzeugung. Was für ein dreister Gedanke, einen Tag wie den 19. April 1938 zu erzeugen. Eine doppelte 5 hingegen ist der Abakus der Natur, stellt die Finger der zwei Hände dar. Im lateinischen Zeichensystem bildet X das Andreaskreuz, die beiden Hälse der Sanduhr, die beiden Speichen des Rads der Zeit. Zwei Fünfen (V: Hände, Trichter, Tabernakel) verbinden sich an den Spitzen (X) und bilden einen Kelch, wie in der Lyrik der englischen Manieristen, der großen Wort-Spieler, eines Dylan Thomas; sie bilden den Gral. Die Punkte, die ihn definieren, zeichnen das Idealschema von Pflanzungen. Das Archetypische der 10 zeigt sich vom Zehnt bis zur Dezimierung. Also sprach Zolla. Dachte Klee an die Dezimierung der Juden, im Angesicht ihrer radikalen Auslöschung? Und die 13? Berücksichtigte Klee, dass für einen Dichter des Barocks wie Tasso die tragende Achse eines Poems von zwanzig Gesängen nicht die 10, sondern die 13 ist? Es ist unmöglich zu sagen, ob Klee in jenem Augenblick an Archetypen dachte. Man kann nur willkürliche Vermutungen anstellen, die einer wie der dort sitzende Schlummerer ohne Weiteres als müßig betrachtet: lateinisch nugae: bevor man sich dem Schlaf ergibt, der wie Blei auf der Stirn lastet und einem die Augenlider zudrückt. Befasste Paul Klee sich mit Sport? War Paul Klee Leser der nationalen & ausländischen Sportnachrichten? Man müsste wenigstens jemanden fragen, der ihn gekannt hat, zum Beispiel seinen Sohn. Oder sich verhalten wie der Historiker, wenn er über etwas nichts weiß: er muss sagen, dass er es nicht weiß.
Doch die Frage ist ganz unwichtig. Von großem Interesse ist hingegen zu versuchen, eine Bedeutung anzubieten (anbieten?) für die Zeichen (aus welcher Tiefe sie kommen), für die Hieroglyphen, die Klee auf das bedruckte Papier der «National-Zeitung» gemalt hat.
Unterdessen hob einer der um den Wirtshaustisch Versammelten vorab die Hand und bat um das Wort.
– Herr Klee! Kann man von Hieroglyphen sprechen, ohne in Häresie zu verfallen?
– Ohne in Häresie zu verfallen!, erwiderte Klee, indem er zweideutig die Augen schloss mit der Gutmütigkeit der Katze, wenn sie sich freut, die gütige Seite ihrer Katzenseele zu zeigen.
Einer, der in der Windfabrik arbeitete (kurz gesagt, er unterrichtete), Herr Professor Glaser, der Einzige in der Runde, der eine Krawatte trug, teilte dagegen die Sorge der Formalisten, die es arbiträr finden, etwas eine Bedeutung geben zu wollen, das keine Bedeutung haben will. Als wollte man eine Tür mit Schulterstößen aufbrechen, wenn es gar nichts zum Aufbrechen gibt. Die Tür steht offen.
Doch Klee beruhigte alle. Das Wort Hieroglyphe ist ein dreifach gesegnetes Wort. Es ist an und für sich schon von Heiligem durchdrungen: von Erinnerung: von Religion, sodass wir ruhig schlafen können.
Über das Paradoxon lachend, schielte er zum Schlummerer hin. Das Problem aber (wie es zur Freude derer, die gern an einem Wirtshaustisch in Gesellschaft trinken, mit fast allen Problemen geschieht) blieb offen.
– Man nehme – nun war der Schreiber O/17360 an der Reihe – man nehme das scheinbar am leichtesten lesbare Zeichen auf Klees Bild: Klees O ist der Buchstabe O, der dreizehnte im italienischen Alphabet: noch eine 13! Oder ist es eine Null, oder genauer gesagt, wenn man so will: Aleph-0 des Mathematikers Georg Cantor?
Könnte Klees großes O nicht eine Antwort sein, eine Herausforderung? An Mondrian? Wer weiß! Die gebogenen Linien, sagt Ranuccio Bianchi Bandinelli richtig – Arthurs Wille hat ihm zu Ostern ein schönes Osterei beschert, er wurde beauftragt, Hitler durch die Uffizien zu führen, als Hitler im Frühjahr 1938, wenige Tage nach dem Schweizer Cupfinal im Wankdorf-Stadion von Bern am 18. April, seinen ruhmreichen iter per Italiam unternahm – die gebogenen Linien, sagt Ranuccio, sind voller individueller Sensibilität, leicht kalligrafisch und auch ein bisschen lasziv. Der Schlummerer hob kurz das linke Augenlid. Wer ihnen folgt, ist verloren. Ein Maler, ein Holländer, ein Abstrakter, flüchtete aus Siena, als er bemerkte, dass ihm auf den Straßen, leibhaftig, Duccios Engel, als Mädchen gekleidet, entgegenkamen: Er fürchtete, sich in ihrem Oval zu verlieren.
Mondrian, der von Spinoza Inspirierte, ganz dessen Ethica ordine geometrico demonstrata verpflichtet, erreichte ab 1931 / 32 die vollkommene Kreuzung der Geraden. Ordnung und Reinheit, das jahrhundertealte «flandrische Leinen». Der platonische Mondrian, der Keusche, der Asket. Der calvinistischste unter den abstrakten Künstlern. Wäre er Philosoph und nicht Maler gewesen, hätte er es wie Origenes machen können, sich blenden, um nicht durch Frauen von seinen Spekulationen abgelenkt zu werden. Durch ihr Oval.
Laszivität der gebogenen Linien. Und Klee war ihretwegen ein verlorener Mann?
Klee lachte herzlich und trank, zu Ehren des Mediterranen im weitesten Sinne, von Siena und den Sieneser Hügeln in der Schweiz, ein gutes halbes Glas Merlot: aus der Kellerei von Mendrisio. Doch was war Klees O?
Auf den ersten Blick ist es durchaus ein O, ein Kreis, aber nicht vollkommen rund, es ist nicht, nein nein nein nein, das O von Giotto; es ist nicht mit dem Zirkel gemacht. Ist es ein O wie ein alter verbogener Ring, ein betrogener Geliebter, der sich an dem auf dem Jahrmarkt geschenkten Liebespfand rächt? Ein verbeulter Rahmen, der auf dem weiten Feld der Abfälle gelandet ist?
Ein O zu interpretieren ist, als wollte man eine Note für Trompete interpretieren, die aus einem Trompetenkonzert, einem Weihnachtsoratorium isoliert in die ländliche Einsamkeit dringt, einem Tuba mirum spargens sonum per deserta regionum entsprungen, einem Strawinsky: und eine wütende Hand dreht dir das Radio ab und sie bleibt da stehen in der Dunkelheit, diese einzelne Note in der Nacht.
In der ganz deutschen Nacht hörte man fortissimo das Tuten einer Hupe, das Frauen, Alte und Kinder im ganzen Häuserblock im Bett auffahren ließ. Die Männer waren in den Kasernen. Sie lagerten auf dem Land (wie es bei einem mondrianesken Ariost heißt)
zu zehnt, zu zwanzigst, zu viert, zu siebt, zu acht.
Niemand (oder doch, durch geheime Koordinaten, Mondrian), niemand protestierte gegen die Schamlosigkeit dieses Hupens, das von dem schwarzen Mercedes kam. Und dann war das Auto schon wieder losgefahren mit extra lautem Knirschen von Nagelreifen auf dem körnigen Asphalt: auf Wiedersehen.
Andernorts auf der berüchtigten Seite 13 der «National-Zeitung», unweit von der Stelle, wo er blitzartig sein O hingeworfen hatte, deutete der entartete Maler Paul Klee so etwas wie ein schüchternes H an, doch vielleicht war es gar kein H; vielleicht war es ein Gestell, wie man es in Turnhallen findet, eine Sprossenwand, an die Turnlehrer – solche, die Tag und Nacht die Trillerpfeife im Mund haben, die von den verstörten Bergbuben Ungeliebten – den aus dem Tal in die Stadt gekommenen Jungen schicken, weil er schon so krumm, plump, vertrottelt daherkommt wie ein Landstreicher, ein Schandfleck, ein Spaghettifresser und schon den schiefen Gang eines Bauern hat; da an der Sprossenwand nageln sie ihn dann fest, damit sich seine verfluchte Wirbelsäule eines mediterranen Bauern etwas aufrichtet, da er nichts mehr von dem Griechentum weiß, das in ihm lebendig sein müsste, aber erloschen ist: Herrgott, er soll lernen, Haltung anzunehmen wie ein kühner Soldat und dir mit stählernen Augen in die Augen zu blicken. Wie die von der Wehrmacht.
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