Er schaute hin und erkannte sich tatsächlich. Er war wirklich richtig mager gewesen und sah irgendwie traurig und verloren aus. Als ob er mitten in einer Gruppe Fremder gewesen wäre und niemand gekannt hätte.
Du wirkst so verloren. Guck mal. Man möchte dich gleich in den Arm nehmen und vor allem möchte man dich füttern. Du siehst so unterernährt aus.
Na ja, gefüttert hatte sie ihn jetzt zuhauf. Sie könnte ihn dafür jetzt mal in den Arm nehmen.
Du könntest mich ja jetzt mal in den Arm nehmen. Sozusagen nachträglich.
Sie schaute ihn lächelnd an.
Das hast du jetzt aber schön gesagt.
Dann ging ihr Blick wieder zu den Fotos.
Da, schau mal, das bin ich. Bin ich nicht ein hübsches kleines Mädchen?
Er besah sich das schmale Mädchen, das begeistert einen Ast mit einer Wurst dran vor die Kamera hielt.
Siehst du die vielen Sommersprossen?
Er zog das Bild näher, konnte aber beim besten Willen keine Sommersprossen entdecken.
Na ja, so viele sind es jetzt aber auch nicht.
Sie blätterte weiter im Album.
Also ich habe gelitten, und ihr habt mich auch ausgelacht.
Michel protestierte.
Also ich sicher nicht.
Nein, du nicht.
Sie strich ihm zärtlich über den Kopf. Er schlang wieder den Arm um ihre Hüften und drückte sie sanft an seine Seite.
Nein, du hast mich sogar eine Zeitlang jeden Tag abgeholt und wir sind Hand in Hand zur Schule gegangen. Weißt du noch?
Ja, ja, es ist mir wieder in den Sinn gekommen. Du hast mir damals schon gefallen.
Aha. Und jetzt, gefalle ich dir denn immer noch?
Er presste sie stärker an sich, jetzt spürte er auch ihren Busen.
Ja, du gefällst mir sehr. Seit wir uns gesehen haben, denke ich nur noch an dich.
Soso. So ist das also.
Sie lächelte ihn an und küsste ihn wieder ganz leicht und kurz auf die Lippen.
Das freut mich.
Dann drehte sie sich wieder elegant aus seinem Arm.
Und jetzt trinken wir noch zum Abschluss unseres schönen Abends einen Whiskey. Morgen muss ich nämlich früh im Büro sein. Magst du Eis zum Whiskey?
Er schüttelte den Kopf. Er hasste Whiskey.
Nein, nein, ich trinke ihn am liebsten pur.
Sie füllte die Gläser zwei Finger breit. Dann prostete sie ihm zu und trank das Glas auf einmal leer. Er bemühte sich, es nachzumachen, verschluckte sich aber und bekam einen wüsten Hustenanfall.
Oh je. Soll ich dir auf den Rücken klopfen, Serge?
Er schüttelte energisch seinen Kopf und trank mit Todesverachtung das Glas leer.
Sie strahlte ihn an.
Ist alles in Ordnung mit dir?
Ja, alles in Ordnung. Es war ein sehr schöner Abend. Ich danke dir.
Er musste den Satz richtig herauswürgen, so enttäuscht war er, aber er konnte es zum Glück mit dem noch nicht ganz abgeklungenen Hustenanfall kaschieren. Beim Aufstehen merkte er den Alkohol bis in die Beine, die seltsam schwach waren. Er ließ noch einmal den Blick durch das Wohnzimmer schweifen, bis er sich kräftig genug fand, Richtung Ausgang zu gehen. Als er mit Mühe und Not die Schuhe angezogen hatte, brachte sie ihm den Mantel. Er zog ihn an. Sie schaute ihm ernst in die Augen, dann zog sie seinen Kopf zu sich hinunter und küsste ihn leidenschaftlich. Michel war so baff, dass er kaum reagieren konnte. Bis er richtig begriffen hatte, was da vor sich ging, war es auch schon wieder zu Ende. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr.
Ich kann nicht sofort mit jemandem ins Bett, verstehst du, obwohl ich große Lust habe. Wer weiß, vielleicht das nächste Mal. Kommst du wieder?
Er nickte heftig, brachte aber kein Wort mehr heraus.
Sie drehte sich um und öffnete die Haustür.
Am anderen Morgen kam Michel fast nicht aus dem Bett hoch. Er hatte solche Kopfschmerzen, dass er das Gefühl hatte, sein Schädel würde platzen.
Dieser verdammte Rotwein!
Seine Vermieterin machte ihm einen Eisbeutel, den er sich auf den Kopf hielt. Das war natürlich sehr nett, dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, als ob sie sich freuen würde. Hatte sie gestern Abend erraten, dass er zu einer Frau ging? Hatte er vielleicht zu laut in der Dusche gesungen? Wahrscheinlich.
Als das Dröhnen in seinem Kopf etwas nachließ, ging er unter die Dusche und ließ abwechslungsweise kaltes und heißes Wasser über sich laufen. Das half. Er zog sich an und machte sich grimmig auf den Weg in sein Büro. Die ganze Zeit dachte er an Mali. Er hörte immer noch ihr Flüstern an seinem Ohr. Er wusste nicht, ob er Mali hassen sollte oder ob er sich auf das nächste Mal freuen sollte. Im Büro ärgerte er sich über Lena, die gestern und heute freigenommen hatte, was sie natürlich mehr als verdient hatte. Tanner war auch nicht da. Michel fühlte sich elend und von der ganzen Welt verlassen.
Dann ging es mit den Verhören von Bekims Cousins endlos weiter. Von der Werdt bestand darauf, sie persönlich zu befragen. Beantwortet wurden allerdings nur die harmlosesten Fragen. Ansonsten schwiegen sie hartnäckig. Von der Werdt tobte, schrie, dann war er plötzlich wieder ganz freundschaftlich, sogar väterlich. Gegen Mittag gab er es auf. Am Nachmittag holte man die ganze greifbare Verwandtschaft. Alle schwiegen verstockt und antworteten nur das Nötigste. Alles Drohen und Schimpfen nützte nichts. Gegen fünf Uhr wurde die Befragung abgebrochen. Bis es dunkel wurde, hockte Michel über den Akten, dann ließ er den Kopf sinken und schlief über einem Berg Akten ein.
Er schreckte hoch, als sein Mobiltelefon schrillte. Es war Mali. Mali die Erlöserin. Mali mit dem erlösenden Wort: Komm!
Eine Stunde später stand er frisch geduscht und frisch rasiert vor Malis Haustür und klingelte. Sie riss die Tür auf. Ihre Haare waren nass.
Haben wir wieder gleichzeitig geduscht?
Du bei dir. Ich bei mir.
Sie lachten.
Das waren dann für viele Stunden seine letzten Worte.
Sie gingen die Treppe hoch. Sie war barfuß und trug einen schwarzen Kimono mit rosaroten Distelblüten. Im Schlafzimmer brannten Kerzen. Mali schlüpfte aus ihrem Kimono. Ihre Haut schimmerte im Kerzenlicht. Sie drehte sich zu ihm. Die Spitzen ihrer Brüste waren hart und leuchteten golden.
Sie blickte ihm in die Augen. Dann berührte sie ihn zwischen den Beinen.
Michel schluckte und nickte.
Am anderen Morgen um sieben Uhr rief Michel Sommer an und meldete sich krank. Er habe hohes Fieber. Mali hatte glücklicherweise ihren freien Tag.
Das mit dem Fieber war nicht einmal gelogen, denn er fühlte sich tatsächlich fiebrig und wie in Trance. Zwischendurch hatten sie gemeinsam geduscht, in der Küche eng umschlungen eine Kleinigkeit gegessen und getrunken und waren wieder zurück ins Bett gegangen. Erst gegen Mittag waren sie eingeschlafen.
Als sie wieder erwachten, war der Nachmittag fast schon vorbei. Draußen regnete es in Strömen. Michel war allein im Bett.
Sein Telefon klingelte. Widerwillig nahm Michel ab. Es war Lena, die sich erkundigen wollte, wie es ihrem Chef ging. Er antwortete krächzend und mit heiserer Stimme.
Ich habe immer noch Fieber. Ich hoffe, dass ich morgen kommen kann. Gibt’s was Neues?
Nichts, was ich Ihnen am Telefon sagen könnte.
In diesem Moment rief Mali irgendwas Fröhliches von unten.
Zu spät hielt er den Hörer mit der Hand zu.
Sie sind nicht allein, Chef?
Michel schnaubte.
Erstens habe ich Ihnen verboten, Chef zu sagen, und zweitens ist es meine Nachbarin, die fragt, ob ich etwas brauche.
Lena kicherte.
Oh, wie nett!
Ja, es gibt sie eben noch, die hilfsbereiten Nachbarn.
Interessant ist allerdings, Michel (sie betonte Michel mit übertriebenem Nachdruck), dass ich Sie über Ihr Festnetz nicht erreichen konnte.
Sie kicherte wieder.
Ich wünsche Ihnen gute Besserung und hoffentlich bis morgen. Ich bin ab sieben im Büro.
Читать дальше