Carl Achleitner:
Das Geheimnis eines guten Lebens
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 edition a, Wien
www.edition-a.at
Mitarbeit und Lektorat: Andreas Görg
Cover und Satz: Isabella Starowicz
Coverfoto: Stefan Knittel
ISBN Druckversion 978-3-99001-437-0
ISBN E-Book 978-3-99001-438-7
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Alle Geschichten in diesem Buch haben so oder so ähnlich stattgefunden. Um niemandes Privatsphäre zu verletzen, habe ich allerdings sämtliche Namen verändert und die geschilderten Begräbnisse nicht 1:1 erzählt, sondern aus den über 2.500 Abschieden, die ich bisher begleiten durfte, verwoben. Wenn Klarnamen vorkommen, dann nur solche von Personen des öffentlichen Lebens, oder mit ausdrücklicher Erlaubnis der jeweiligen Familie.
Für ABVM
Du musst dir alles geben,
Dämmern und Morgenrot.
Unendlich lass dich leben,
oder bleib ewig tot.
Konstantin Wecker
Edi hat ein Rendezvous
Berufung finden
Liebe ist …
Freundschaft
Schmerz und Trost
Humor
Sterben, gut und schön
Versöhnung
Verzeihen
Edi legt den Hobel hin
Zum guten Ende …
Danksagung
Grau in Grau. Feuchte, windige Kälte kriecht einem durch die Thermo-Unterwäsche bis in die Knochen. »Ich freu’ mich, wenn’s regnet, denn wenn ich mich nicht freu’, regnet es auch«, flüstert mir Karl Valentin zu. Aber der hat leicht reden, der ist tot. Sauwetter, denke ich, als ich die Bäckerei betrete.
»Begräbniswetter«, höre ich jemanden vor mir sagen. Klar, das assoziieren wir. Für die meisten ist das so leicht dahingesagt. Für mich ist jeden Tag Begräbniswetter. Würden Sie mich nach meinem Beruf fragen, dann würde ich am liebsten sagen: über das Leben reden. Sie würden dann wahrscheinlich den Kopf schütteln, wenn Sie erfahren, was ich tatsächlich mache. Ich bin Trauerredner. Vor ein paar Jahren hätte ich selbst noch meinen Kopf darüber geschüttelt.
Während für die meisten Menschen der Gang zum Friedhof etwas Außergewöhnliches ist, ist es für mich Alltag. Für viele mag der Friedhof ein Ort des Schmerzes und des Schreckens sein. Für mich ist er der schönste Arbeitsplatz der Welt. Ich halte meine Reden in der Sommerhitze am Grab oder bei Minusgraden in zugigen Kapellen. Oder wie heute in der prachtvollen Aufbahrungshalle in Brunn am Gebirge, südlich von Wien. Ich bestelle meine Melange. Die Bäckereiangestellte trödelt. Ich schaue auf die Uhr. Pünktlichkeit ist wichtig in meinem Beruf. Zu spät kommen wäre eine Katastrophe. Deshalb bin ich prinzipiell immer eine Stunde vor Beginn vor Ort. Das gibt mir Zeit, in Ruhe anzukommen und in die jeweilige Lebensgeschichte einzutauchen. Für die mir anvertrauten Menschen ist der Tag des Abschieds etwas Einzigartiges, nicht Wiederholbares. Wenn der Tod auf Besuch kommt, bleibt die Welt kurz stehen.
Ich parke mein Auto an der Mauer mit den kahlen Weinreben, die jetzt im Winter wie tot aussehen und doch im Frühjahr die ganze Wand mit üppigem Grün überwuchern werden. Mit meiner Mappe in der Hand gehe ich den schmalen Weg entlang zur Aufbahrungshalle, die von manchen Menschen fälschlicherweise als Aufbewahrungshalle bezeichnet wird. Ich weiß nicht, das wievielte Mal ich schon hier bin. Es ist einer der Friedhöfe, die ich ganz besonders mag. Die Halle ist an der Decke hell verkleidet, Malerei von Herwig Zens an den Wänden, ein bunter Totentanz, viel Tageslicht fällt in den Raum.
Der Arrangeur ist auch schon da. Wir kennen uns lange. Ich mag ihn und verzeihe ihm, dass er sagt: »Nichts Besonderes, kleiner Kreis.« Sobald die Leute da sind, ist er Profi, der sich in über zwanzig Jahren Berufserfahrung Pietät und Menschlichkeit bewahrt hat. »Nur ein Gesteck und acht Rosen … Schauen wir mal, wie wir das verteilen, damit es gut ausschaut.«
Ich nicke. Das Arrangieren der Blumen und Kränze ist namengebender Teil des Anforderungsprofils eines Arrangeurs. Wir gehen gemeinsam unsere Listen durch.
»Zwei Lieder.« Er tippt auf seinen Zettel. »Schlusslied ›Sag beim Abschied leise Servus‹ in der Version von Peter Alexander; und zum Einzug des Dings, des Er vom Beethoven.«
»Air von Bach meinst du?«, frage ich.
»Air oder Sie, is’ eh des Gleiche«, meint er und macht einen Soundcheck.
Fünfzig Minuten bis zum Beginn. Noch niemand da. Ich hatte im Vorfeld Kontakt mit Gabi, der Tochter der im 87. Lebensjahr Verstorbenen Maria Binder und weiß, dass sie für Ihren Mann Eduard nicht die »Maria« war, sondern die »Mitzi«. So werde ich sie auch in meiner Rede ansprechen. Ich bin gut vorbereitet. Zeit, die Eckpunkte noch mal durchzugehen. Ich schlage meine Mappe auf, krame in meinen Unterlagen, suche nach dem Manuskript. Ich finde alles Mögliche. Mein ganzes Repertoire an Texten und Zitaten, von Jean Paul über Marie Curie bis Heinz Rickal, von Goethe, Seneca, Eli Wiesel, Annette von Droste-Hülshoff, Astrid Lindgren, Thomas Bernhard, Barbara Pachl-Eberhart, Herman Hesse, Bazon Brock, Grönemeyer, Reinhard Mey, Ambros und Wecker zu Henry Scott Holland, Marc Aurel, Marie von Ebner-Eschenbach, Mascha Kaléko, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Antoine de Saint-Exupery, Woody Allen, Dietrich Bonhoeffer, Bertha von Suttner, Janis Joplin, Albert Schweitzer bis zu meinem Vater. In acht Jahren Dienst als Trauerredner sammelt sich so einiges an, gewisse Bausteine, beliebte Gedichte, die ich immer wieder in meine Reden einfließen lasse. Ich finde alles. Nur kein Manuskript. Mir wird heiß. Ich blättere noch einmal alles durch, dann ist es sicher: Ich habe meine Notizen zu Hause vergessen. Das ist mir noch nie passiert. Bei 2.500 Begräbnissen ist schon alles Mögliche vorgekommen. Ich habe Namen falsch ausgesprochen, war statt in Sievering in Simmering zur falschen Zeit am falschen Ort, habe auch schon eine Rede ohne einen einzigen Trauergast gehalten, habe mich über feindselige Arrangeure geärgert, am Sarg von Kindern oder Jugendlichen mit Gott gezürnt, habe während einer Rede die Stimme verloren, bin sogar einmal zu spät gekommen. Aber noch nie, nie habe ich mein Manuskript vergessen.
»Ich muss noch mal los«, rufe ich dem Arrangeur zu, der bereits die Kerzen, die in Edelstahlstelen um den Sarg herum stecken, anzündet.
Ein Sprint zum Auto, ein Blick auf die Uhr. Das kann sich niemals ausgehen. Auf dem Weg zurück zur Aufbahrungshalle schwöre ich mir, meine Smartphone-Verweigerung endlich aufzugeben. In meinen E-Mails würde ich die wichtigsten Informationen finden, aber mit meinem zwölf Jahre alten Nokia kann ich nur telefonieren, sonst nichts. Ich frage den Arrangeur, ob er ein Handy mit Internet hat.
»Du nicht?«, schmunzelt er und zieht seines aus der Hosentasche. Ich bedanke mich, atme tief ein und aus, gebe nur zweimal das Passwort für meinen E-Mail-Account falsch ein. Der Arrangeur wirft mir einen mitleidigen Blick zu. Es ist ein ehrliches Mitleid. Vor einem Monat hat er vergessen, die CD mit der gewünschten Musik mitzunehmen. Fehler passieren. Auch hier am Friedhof, gerade hier, wo wir unter Druck in einer Extremsituation arbeiten, wo nichts schiefgehen darf.
Ein Blick auf die Uhr beruhigt mich. Es ist noch etwas Zeit. Genug Zeit, um meine Stichworte aus dem Handy abzuschreiben. Die wichtigsten Punkte habe ich ohnehin im Kopf. Wenn ich etwas in den letzten acht Jahren als Redner gelernt habe, dann ist es, den Dingen die richtige Wertung zu geben. Täglich mit dem Tod beschäftigt zu sein, lässt alles, was passiert, in einem anderen Licht erscheinen. Als der Friedhof in mein Leben gekommen ist, ist, so komisch das klingen mag, auch Leichtigkeit mit eingezogen. Aber erst mal zurück zur Rede.
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