Bereits 1968 spricht Wresinski von der „Brutalität von Verachtung und Gleichgültigkeit“ 205, die Elend hervorbringe. Inzwischen haben soziologische und wirtschaftshistorische Analysen aus unterschiedlichen Schulen gezeigt, dass die angesprochene Indifferenz strukturell zur spätmodernen Gesellschaft gehört und eine Voraussetzung für deren Funktionieren darstellt. In dieser Gesellschaftsform beruhen Verpflichtungen zwischen den Individuen (außerhalb der Familie und der engen Freunde) nicht auf traditionellen, verwandtschaftlichen oder ständischen Bindungen, sondern auf Leistung und Gegenleistung. Die Verpflichtung endet, wenn der festgelegte Zweck erfüllt ist. Außerhalb dieser Tauschbeziehung begegnen sich die Individuen mit Indifferenz, einer Haltung wohlwollender Nichtbeachtung. 206Diese Haltung verhindert die Eskalation von Konflikten 207, hat aber auch zur Folge, dass Menschen, die aufgrund ihrer Situation nicht in der Lage sind, in interessegebundenen Tauschbeziehungen die erwartete Gegenleistung zu erbringen, stigmatisiert oder kriminalisiert werden, sofern sie nicht ganz aus dem Wahrnehmungsraster hinausfallen.
Seit den neunziger Jahren wird Exklusion unter dem Stichwort der „Überflüssigen“ diskutiert. 208Der Blick richtet sich auf die wachsende Anzahl von Menschen, für die es im Arbeitsmarkt keinen Platz gibt. Als neu wird wahrgenommen, dass die mit dem Fehlen von Arbeitseinkommen und beruflichem Status verbundene gesellschaftliche Disqualifizierung in breitem Maße Menschen in sehr unterschiedlichen Ausgangslagen trifft: Einheimische und Fremde, quer durch die traditionellen sozialen Schichten und Klassen. Systemtheoretisch kann ihre Situation als Konsequenz der funktionalen Differenzierung unserer Gesellschaften verstanden werden:
„Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen. Keine Ausbildung, keine Arbeit, kein Einkommen, keine regulären Ehen, Kinder ohne registrierte Geburt, ohne Ausweis, ohne Zugang zu an sich vorgesehenen Anspruchsberechtigungen, keine Beteiligung an Politik, kein Zugang zur Rechtsberatung, zur Polizei oder zu Gerichten – die Liste ließe sich verlängern, und sie betrifft, je nach den Umständen, Marginalisierungen bis hin zu gänzlichem Ausschluss.“ 209
3. Ausgegrenzte Erkenntnissubjekte
Der öffentliche Diskurs in der Spätmoderne ist von einem grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Einerseits gilt die Tatsache, dass Menschen, Gruppen und ganze Staaten vom Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen, Handlungsund Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschlossen bleiben, als inakzeptabel. Andererseits wird der Erfahrung und den Erkenntnissen dieser Menschen, Gruppen oder Staaten bei der Analyse der Problemlagen und bei der Suche nach Lösungen keine Bedeutung beigemessen. Sie werden als Opfer ohne eigene Analyse und Initiative dargestellt. Oft wird ihnen diese „Opferhaltung“ zum Vorwurf gemacht oder gar zur Ursache ihrer anhaltenden Ausgrenzung erklärt.
Armut verbunden mit sozialem Ausschluss verletzt die Menschenrechte und ist Gewalt an Personen. Das Wissen der Allerärmsten ist unentbehrlich, um diese Gewaltsituationen zu überwinden. Allerdings werden Menschen, welche durch den negativen Blick, der auf ihnen lastet, geprägt sind, ihr Wissen und ihre Ansichten nicht ohne weiteres preisgeben: „We know where, with whom and when we can talk.“ 210Eine rein deskriptive Forschung, die nicht vom Streben nach einem Leben in Würde ausgeht, hat für sie keinen Sinn und ist auch ethisch nicht zu vertreten. Erkenntnisgewinn ist nur im Rahmen einer verbindlichen Beziehung möglich. Das Eingehen einer solchen verändert bereits die Situation und eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten. Es verändert auch die Position des Forschers bzw. der Forscherin.
„To break the silence it is necessary to recognize the knowledge possessed by those who have had silence imposed on them, to have the will to merge it with the knowledge generated by universities, NGOs and institutions in general, and in the process to create new knowledge that will transform institutional practice and the lives of the people in extreme poverty.“ 211
Methoden der Aktionsforschung, wie sie z. B. in der Erziehungswissenschaft oder in der Organisationssoziologie angewandt werden, beruhen auf einer Partnerschaft zwischen Forschenden und Akteuren im Forschungsfeld. Der Erkenntnisgewinn geht dabei mit der Veränderung einer als unbefriedigend empfundenen Situation einher. 212In dieser Linie wurde im Rahmen der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt der Ansatz des Wissenverflechtens ( croisement des savoirs, merging of knowledge ) entwickelt. Er ermöglicht durch Armut ausgeschlossenen Menschen, ihr aus der Erfahrung und dem täglichen Kampf gewonnenes Wissen gemeinsam zu konstruieren und es mit Wissen aus anderen Erkenntnisquellen (wissenschaftliche Forschung, institutionelle Praxis) zu konfrontieren, um gemeinsam zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. 213
Die Überwindung sozialer Ausschließung verlangt einen nachhaltigen Lernprozess 214, in dessen Verlauf die ausschließenden Institutionen ihre Zuständigkeit für die betreffenden Personen anerkennen. Sie nehmen diese nicht länger nur als Arme oder als Problemfälle wahr, sondern als Mitbürger, Schüler, Pfarreiangehörige oder Internetnutzer, auf deren Wissen sie angewiesen sind, um ihrem Auftrag für alle gerecht zu werden. Ein Merkmal gelungener Transformation ist, dass die Ausgrenzung eines Bevölkerungsteils als Widerspruch zu den Werten und Zielen der betreffenden Institution thematisiert wird und dass diese eine politische Beziehung mit den Ausgeschlossenen eingeht, um die eigenen Werte und Ziele neu zu verstehen und gemeinsam zu realisieren. 215
4. Theologische Erkenntnis im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion
Praktische Theologie hat sich Rechenschaft darüber zu geben, welche Dichotomie von innen und außen (z. B. Kirche und Welt, die Gemeinde und die Armen, religiös und säkular) sie jeweils verwendet und wie sie die Beziehung zwischen beiden Bereichen konstruiert. Welche Phänomene passen in das Wahrnehmungsraster des Praktischen Theologen / der Praktischen Theologin und welche fallen hindurch? Welche Personen und Gruppen kommen als Erkenntnis- und Forschungssubjekte in Betracht und welche werden ausgeschlossen? Inwiefern fördert oder behindert ein Forschungsprojekt diese verschiedenen Subjekte in ihrem eigenen Verständnis der Situation und in ihren Handlungsmöglichkeiten? 216
Eine Praktische Theologie, die auf das Leben aller Menschen entsprechend ihrer Würde vor Gott ausgerichtet ist, hat sich vorrangig an denjenigen auszurichten, deren Würde und Lebensmöglichkeiten am meisten unterdrückt sind. Eine Praxis, welche die Partnerschaft mit den Ärmsten zur Grundlage politischen und bürgerschaftlichen Handelns macht, kann gleichzeitig als konsequente Umsetzung der Ideale der Moderne verstanden werden: Mündigkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Menschenrechte und Demokratie. 217Sie bedeutet allerdings einen Bruch mit einer exklusiven Konzeption dieser Ideale. Im Unterschied zu Ansätzen, die zwar den Kreis der mündigen Bürger in einem permanenten Kampf um Anerkennung (Axel Honneth) nach und nach ausweiten, aber bei der Konstituierung der neuen politischen Subjekte (Dritter Stand, Arbeiterklasse, Frauen 218, ehemals kolonisierte Völker) einen „menschlichen Abfall“ in Kauf nehmen (die Passivbürger bei Emanuel Joseph Sieyès, das Lumpenproletariat bei Karl Marx), macht diese Praxis den Ärmsten zum Garanten der Universalität dieser Ideale und betrachtet seinen Beitrag als unerlässlich, um diese zu konkretisieren. „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen ist heilige Pflicht“ 219, diese von Wresinski formulierte Devise weist über die Dichotomie von Inklusion und Exklusion hinaus. Sie sucht Einigung nicht durch Abgrenzung nach außen, sondern durch das Eingehen einer politischen Beziehung mit denjenigen Menschen, denen unter den herrschenden Bedingungen ein Leben in Würde nach anerkannten Normen verwehrt ist. Christliche und kirchliche Praxis hat sich an diesem Anspruch zu messen.
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