Im zweiten Fall ist eben nicht – wie oft angenommen – von Institution, sondern von Organisation zu sprechen. Eine Organisation ist gegenüber der Institution
„ein für bestimmte Zwecke eingerichtetes soziales Gebilde mit einem formell – bzw. ‚institutionell‘ – vorgegebenen Ziel, mit formell geregelter Mitgliedschaft, einer das Handeln der Mitglieder regelnden institutionellen ‚Verfassung‘, sowie – meist – einem eigenen ‚Erzwingungsstab‘ zur Durchsetzung dieser Verfassung.“ 177
Organisationen als soziale Gebilde bedienen sich demnach institutioneller Regeln, sie sind jedoch zugleich mehr als diese.
2. Die Entstehung von Institutionen
Institutionen entwickeln sich nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann aus der – der Gewöhnung entspringenden – Habitualisierung des Handelns, die den psychologisch wichtigen Gewinn der begrenzten Auswahl ermöglicht und von dauernden Entscheidungen entlastet. Demnach verfestigt sich
„jede Handlung, die man häufig wiederholt, […] zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird. Habitualisierung in diesem Sinne bedeutet, daß die betreffende Handlung auch in Zukunft ebenso und mit eben der Einsparung von Kraft ausgeführt werden kann. Das gilt für nichtgesellschaftliche wie für gesellschaftliche Aktivitäten.“ 178
Damit aus habitualisierten Handlungen Institutionen werden, bedarf es der gegenseitigen Verschränkung von Akten und Akteuren.
„Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Für ihr Zustandekommen wichtig sind die Reziprozität der Typisierung und die Typik nicht nur der Akte, sondern auch der Akteure.“ 179
Auf institutionaler Ebene werden habitualisierte Handlungen dann im Verlauf eines geschichtlichen Prozesses zur allgemeinen Verbindlichkeit erhoben.
„Wenn habitualisierte Handlungen Institutionen begründen, so sind die entsprechenden Typisierungen Allgemeingut. Sie sind für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar . Die Institution ihrerseits macht aus individuellen Akteuren und individuellen Akten Typen.“ 180
Dieser Prozess der Habitualisierung hin zur Institution bleibt nicht ohne Konsequenzen für das einzelne Individuum. Die institutionalisierte Handlung steht nun per se unter sozialer Kontrolle.
„Wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, daß er unter sozialer Kontrolle steht. Zusätzliche Kontrollmaßnahmen sind nur erforderlich, sofern die Institutionalisierungsvorgänge selbst zum eigenen Erfolg nicht ganz ausreichen.“ 181
Die Erleichterung durch den eingeschränkten Zwang zur Wahl wird dabei durch eine Reduktion der potentiellen Möglichkeiten erkauft.
„Durch die bloße Tatsache ihres Vorhandenseins halten Institutionen menschliches Verhalten unter Kontrolle. Sie stellen Verhaltensmuster auf, welche es in eine Richtung lenken, ohne ‚Rücksicht‘ auf die Richtungen, die theoretisch möglich wären. Dieser Kontrollcharakter ist der Institutionalisierung als solcher eigen.“ 182
Im eben angesprochenen geschichtlichen Werden der Institution verschiebt sich die Priorität vom Subjekt zum Objekt. Während anfangs der Prozess der Institutionalisierung noch überschaubar und plausibel ist, gewinnt die Institution objektive Macht, indem sie immer weniger hinterfragt wird. Für Menschen,
„die selbst dieser Welt im Verlauf gemeinsamen Lebens Gestalt gegeben haben, eines Lebens, an das sie sich erinnern können, ist diese ihre Welt […] noch durchschaubar. Sie verstehen, was sie selbst geschaffen haben. Das ändert sich jedoch mit der Weitergabe an eine neue Generation. Die Objektivität der institutionalen Welt ‚verdichtet‘ und ‚verhärtet‘ sich, nicht nur für die Kinder, sondern – mittels eines Spiegeleffektes – auch für die Eltern. Aus dem ‚Da wären wir wieder einmal‘ wird ein ‚So macht man das‘. Eine Welt, so gesehen, gewinnt Festigkeit im Bewußtsein. Sie wird auf massivere Weise wirklich und kann nicht mehr so einfach verändert werden.“ 183
Letztlich führt dies zu dem „Paradoxon, daß der Mensch fähig ist, eine Welt zu produzieren, die er dann anders denn als ein menschliches Produkt erlebt“ 184. Denn bei fortgeschrittener Institutionalisierung stehen nun die aus menschlichem Handeln resultierenden Institutionen
„dem Individuum als objektive Faktizitäten unabweisbar gegenüber. Sie sind da , außerhalb der Person, und beharren in ihrer Wirklichkeit, ob wir sie leiden mögen oder nicht. Der Einzelne kann sie nicht wegwünschen. Sie widersetzen sich seinen Versuchen, sie zu verändern oder ihnen zu entschlüpfen. Sie haben durch ihre bloße Faktizität zwingende Macht über ihn, sowie auch durch die Kontrollmechanismen, die mindestens den wichtigsten Institutionen beigegeben sind.“ 185
3. Funktionen der Institution
Institutionen stellen zwar „dem Individuum gegenüber den Anspruch auf Autorität“ 186, sie entlasten aber auch zugleich. Institutionen „stabilisieren Spannungen dadurch, dass sie den Menschen vom Druck unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung mittels Übersetzung in anhaltende kulturelle ‚Steigerung‘ entlasten“ 187. Sie sind „Teile und Folgen der Versuche der Menschen, ihre Probleme im Alltag zu lösen“, sie dienen der
„Schaffung von individueller Orientierung und von kollektiver Ordnung in einer komplizierten Welt dadurch, daß mit ihnen die Unberechenbarkeiten der psychischen Motive und die Unwägbarkeiten des sozialen Handelns einigermaßen kontrollierbar und vorhersehbar werden“ 188.
Den Institutionen kommen dabei nach Hartmut Esser eine Orientierungsfunktion , eine Ordnungsfunktion sowie eine Sinnstiftungsfunktion zu. So gesehen kann man
„die Funktion der Entlastung von Unsicherheit und Entscheidungsdruck die Orientierungsfunktion und die der Absicherung der sozialen Ordnung und der Kooperation die Ordnungsfunktion der Institutionen nennen. Sie beruhen beide auf einer ganz allgemeinen Funktion von Institutionen: die Einordnung eines Handelns in einen den Akteuren im Prinzip verständlichen und sie dann auch bindenden weiteren Zusammenhang – den Sinnzusammenhang der sozialen Regeln, der die Legitimität der Institution ausmacht. Diese Funktion sei als die Sinnstiftungsfunktion der Institution bezeichnet.“ 189
4. Der spätmoderne Bedeutungsverlust institutionalisierter religiöser Praxis
Betrachtet man die institutionalisierte religiöse Praxis der Gegenwart, so lässt sich unschwer ein Bedeutungsverlust feststellen. In den Jahren von 1960 bis 2007 haben beispielsweise in der deutschen katholischen Kirche die Taufen von Kindern, bei denen mindestens ein Elternteil katholisch ist, von 86,9 auf 72,7 % abgenommen. 190Die katholische „Trauquote“ je hundert ziviler Eheschließungen von Paaren, von denen mindestens ein Partner katholisch ist, sank im gleichen Zeitraum von 75,1 auf 31 %. 191Die Teilnahme am Gottesdienst nahm deutschlandweit von über 45 auf unter 15 % ab. 192
Bei der Analyse der Entwicklung der Zahl der Gottesdiensteilnehmer/-teilnehmerinnen spricht vieles dafür,
„dass die Rückläufigkeit Ausdruck für einen tieferen Wandel im Verhaltensmuster bei den Katholiken ist: Von einer ‚habituellen‘, nämlich gewohnten und erlernten, fraglos selbstverständlichen ‚regelmäßigen‘, nicht zuletzt auch am ‚Sonntagsgebot‘ orientierten Teilnahme zu einer je gewählten – und: immer wieder neu zu wählenden – Teilnahme.“ 193
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