Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
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Herausgegeben von
Erich Garhammer und Hans Hobelsberger
in Verbindung mit
Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock
Stefan Gärtner / Tobias Kläden Bernhard Spielberg (Hg.)
Praktische Theologie in der Spätmoderne
Herausforderungen und Entdeckungen
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© 2014 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter-verlag.de
ISBN 978-3-429-03652-2 (Print)
978-3-429-04735-1 (PDF)
978-3-429-06149-4 (ePub)
Stefan Gärtner / Tobias Kläden / Bernhard Spielberg
Praktische Theologie in der Spätmoderne – ein Projekt
1. Teil: Grundlagen
Wolfgang Fritzen
Spätmoderne als entfaltete und reflexive Moderne. Zur Angemessenheit und Füllung einer Zeitansage
Christian Bauer
Differenzen der Spätmoderne. Praktische Theologie vor der Herausforderung der Gegenwart
2. Teil: Signaturen
Tobias Kläden
Beschleunigung
Thomas H. Böhm
Deinstitutionalisierung und Häresie
Marie-Rose Blunschi Ackermann
Exklusion
Andrea Qualbrink / Renate Wieser
Gender und Intersektionalität
Wolfgang Fritzen / Stefan Gärtner
Leben als Projekt
Renate Wieser
Multiperspektivität
Wolfgang Fritzen / Christoph Lienkamp
Ökonomisierung
Christian Bauer
Paradoxalität
Michael Scherer-Rath
Radikalisierte Kontingenz
Stefan Gärtner
Selbstreferentielle Maximalisierung
Ute Leimgruber
Transformierung des Raums
Christoph Lienkamp
Verrechtlichung
3. Teil: Porträts
Stefan Gärtner
Gert Otto
Christoph Lienkamp
Rolf Zerfaß
Tobias Kläden
Johannes (Hans) A. van der Ven
Christian Bauer
Henning Luther
Thomas H. Böhm / Bernhard Spielberg
Martin Nicol
Ute Leimgruber / Michael Lohausen
Reinhard Feiter
Marie-Rose Blunschi Ackermann
Brigitte Fuchs
Renate Wieser
Uta Pohl-Patalong
4. Teil: Kommentare
Michael Schüßler
Freundschaftlich-kritische Beobachtungen
Hans-Joachim Sander
„… und es giebt kein ‚Land‘ mehr!“ (Friedrich Nietzsche) – auch nicht mehr für die Praktische Theologie in der späten Moderne
Kristian Fechtner
Praktisch-theologische Lesarten der Spätmoderne. Ein Nachgang
Autorinnen und Autoren
Anmerkungen
Praktische Theologie in der Spätmoderne – ein Projekt
Stefan Gärtner / Tobias Kläden / Bernhard Spielberg
Praktische Theologie muss sich den Signaturen der Spätmoderne stellen, will sie eine aktuelle Topografie des Christentums leisten. 1Eng damit verbunden ist die Frage, inwieweit sie diesen Anspruch auch in ihrer eigenen, wissenschaftsinternen Topografie verwirklicht. Natürlich haben die jeweiligen Zeitumstände die Arbeit Praktischer Theologen und Theologinnen früherer Generationen genauso mit geprägt, wie dies für die heutige Generation gilt. In diesem Sinne ist die Praktische Theologie als Kind ihrer Zeit gleichsam automatisch ‚spätmodern‘.
Diese allgemeine Feststellung kann allerdings näher untersucht werden. In diesem Band wird gefragt, wie sich die aktuellen Zeitumstände in der praktischtheologischen Theorie- und Urteilsbildung konkret ausmünzen. Es geht also um die Frage der Topografie der Praktischen Theologie selbst. Es ist zu vermuten, dass es hier Ungleichzeitigkeiten gibt, und zwar sowohl vertikal als auch horizontal. So könnten etwa frühere Vertreter des Fachs bereits spätmoderner geprägt gewesen sein als die heutigen Zeitgenossen. Daneben sollte auch zwischen jeweiligen Zeitgenossen eine Palette von prämodernen bis spätmodernen Haltungen oder in einem Œuvre Mischformen zu finden sein.
Die Frage, ob und wie die Praktische Theologie bei der Zeit ist und war, stellt sich in der Spätmoderne unter verschärften Bedingungen. 2Das klassische Materialobjekt der Praktischen Theologie beziehungsweise der Pastoraltheologie, nämlich die pastoralen Vollzüge beziehungsweise ihre Handlungsträger, besteht heute nicht mehr in fragloser Selbstverständlichkeit. Entsprechend hat der wissenschaftstheoretische Diskurs innerhalb der Disziplin Erweiterungen erfahren. Dies geschah sowohl in der Vergangenheit, wodurch zum Beispiel als Materialobjekt die religiös vermittelte Praxis in der Gesellschaft 3in den Blick kam, als auch in der Gegenwart, etwa mit dem Hinweis auf die Relevanz der lebensweltlichen Alltagspraxis für die praktisch-theologische Reflexion. 4
Außerdem findet sich das klassische, das heißt das an kirchliche Vollzüge gebundene Materialobjekt der Praktischen Theologie in der Spätmoderne auf einem pluralen religiösen Feld wieder. Es gibt zeittypische Kommunikationsformen, die wohl religiöse Züge aufweisen, ohne sich aber als Fortschreibungen des traditionellen Christentums zu begreifen. Die vielfach besprochene Renaissance des Religiösen geht zu einem großen Teil an den Mauern der Kirchen vorbei, auch wenn es hierbei in Westeuropa landestypische Unterschiede gibt. 5Vorläufig werden diese Phänomene mit Begriffen wie postmoderne Religion 6, hochmoderne Religiosität 7, liquid religion 8, implicit religion 9, unsichtbare Religion 10oder wild devotion 11erfasst. Daneben wächst in der Spätmoderne auch die Bedeutung der Multireligiosität und der Multikulturalität, insbesondere mit dem Erstarken des Islams. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass ihnen innerhalb der Praktischen Theologie bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Die genannten Veränderungen auf dem religiösen Feld sind natürlich Teil der Modernisierungsprozesse, die in der spätmodernen Gesellschaft als Ganze zu verzeichnen sind. 12Heute herrscht die Einsicht in die Perspektivität und Partikularität aller Erkenntnis und jeder Praxis vor. Dies löst Prozesse einer fortgesetzten Selbstreferenzialität aus, und es entsteht die gesellschaftliche Situation eines radikalisierten Pluralismus. Für den Einzelnen kulminiert beides in der zunehmenden Individualisierung seiner Biografie und seiner sozialen Bezüge sowie einer gesteigerten Begründungspflicht und neuen Normierungsansprüchen bei seiner Entscheidungsfindung. 13Dies alles hat natürlich auch Rückwirkungen auf die Pastoral und auf das religiöse Feld. 14
In diesem Sinn muss die Spätmoderne beziehungsweise die durch sie mitbestimmte religiöse, kirchliche und pastorale Praxis der vornehmliche Gegenstand einer zeitgenössischen praktisch-theologischen Reflexion sein. 15In diesem Band wird untersucht, inwieweit sie diesen Anspruch nicht zuletzt in ihrem eigenen Wissenschaftsdesign einlöst. Es soll aber weder um ‚Selbstkasteiung‘ noch um pastoraltheologischen ‚Väter- und Müttermord‘ gehen. Auch sollen keine Zensuren verteilt werden. Denn die wissenschaftlich verantwortete Empfindsamkeit für die religiösen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der spätmodernen Gesellschaft ist an und für sich noch kein Qualitätskriterium für die Praktische Theologie. Wohl muss sie sich von ihrer Aufgabenstellung her fragen (lassen), inwieweit und wie sie die Kennzeichen der Spätmoderne in ihre Reflexion integriert. Diese Fragestellung verfolgt der hier vorgelegte Band.
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