beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches
Zeugnis.“ 73
Rainer Bucher hatte zu Beginn der theologischen Debatte um die Postmoderne vorgeschlagen, diesen Begriff im Sinne einer „gegenwartsanalytischen Kategorie“ 74vor allem soziologisch zu verwenden. Die Spätmoderne wäre dann vor allem ein Produkt funktionaler Differenzierungsprozesse der Moderne, die zu einer Individualisierung der Lebensstile und zu einer Pluralisierung der Weltbilder führten. Das ist durchaus richtig, wird aber der skizzierten Herausforderung wohl nicht ganz gerecht. Es stellt sich die Frage: „Welche Philosophie braucht die Pastoraltheologie?“ 75Betrachtet man die großen philosophischen Schulen der Gegenwart in ihrem Bezug zu entsprechenden Zeichen der Zeit, so lässt sich das Denken spätmoderner Franzosen als eine „von prägnanten Zeichen signierte“ 76Philosophie identifizieren, die Frankfurter Schule mit ihren Sozialutopien herrschaftsfreier Kommunikation als eine „von diffusen Zeichen signierte“ 77und die Analytische Philosophie mit ihren historisch kaum affizierten sprachlogischen Schlussverfahren als eine „asignierte“ 78Philosophie. Das letztere Denkformat ist nur durch massive Abblendungen möglich:
„Es geht um eine andere Art von Analyse des Diskurses als Strategie, als sie die Angelsachsen […] betreiben. Mir kommt […] ein wenig begrenzt vor, dass sich diese Analysen […] in einem Oxforder Salon bei einer Tasse Tee entfalten – strategische Spiele betreffend, die zwar interessant sind, aber mir zutiefst begrenzt vorkommen. Es stellt sich das Problem, herauszufinden, ob wir die Strategie des Diskurses nicht in einem ungleich realeren historischen Kontext […] von Praktiken studieren können, die von einer anderen Art sind als diese Salongespräche.“ 79
Eine philosophisch orientierte theologische Rezeption der Spätmoderne findet ihre gegenwartsanalytisch stärksten Gesprächspartner daher auch unter Autoren der französischen Gegenwartstheorie, deren größte Gemeinsamkeit in ihrer Ablehnung des Diskurslabels ‚postmodern‘ besteht: Emmanuel Lévinas 80, Jacques Derrida 81, Jean-François Lyotard 82, Georges Bataille 83, Gilles Deleuze 84und Michel Foucault. 85Parallel zu diesen autorenbezogenen Pionierdiskursen 86erschienen sowohl fachtheologisch 87als auch kirchenpastoral 88ausgerichtete Sammelbände zur Postmoderne bzw. Nach-Postmoderne 89sowie auch erste Monographien 90zur Gesamtthematik. Inzwischen wird an verschiedenen Orten die Theologie als Ganze spätmodern rekonstruiert – zum Beispiel an der Universität Salzburg, wo der Dogmatiker Hans-Joachim Sander eine „Semiotik der Differenz“ 91und der Fundamentaltheologe Gregor M. Hoff „theologische Inversionen“ 92betreiben. International wären vor allem zwei Vordenker einer ‚schwachen Theologie‘ der Spätmoderne zu nennen, deren einschlägige Hauptwerke wohl nicht gerade zufällig an Gianni Vattimos pensiero debole erinnern: Michel de Certeau mit La faiblesse de croire 93und John Caputo mit The weakness of God . 94
Die in diesem Band vorgelegten Signaturtexte zur Spätmoderne bearbeiten, konzilstheologisch betrachtet, exemplarische „Zeichen der Zeit“ (GS 4). 95Mit der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums verweisen sie auf einen lehramtlich höchstrangigen offenbarungstheologischen Begründungsort 96für die Notwendigkeit einer gegenwartstauglichen Pastoraltheologie:
„Unter quantitativer Hinsicht haben die Zeichen der Zeit […] [in GS, Ch. B.] marginale Bedeutung. Aber das quantitative Resultat ihrer Verwendung ist kein Zeichen für die systematische Bedeutung des Begriffs. Die dogmatische Bedeutung der Zeichen der Zeit ist struktureller Natur; sie prägen die Logik der Argumentation, nicht das einzelne Argument. Der Text weist nicht fortlaufend auf die Zeichen der Zeit hin; aber er ist von ihr im Ansatz bestimmt.“ 97
Gaudium et spes ermöglicht eine Anerkennung von Zeichen der Zeit als „theologische Orte“ 98, von denen her Gott in der heutigen Welt zur Sprache gebracht werden kann – und zwar im klassischen Sinn von Melchior Canos loci theologici . Diese stellen Autoritäten des Diskurses („topoi“) dar, von denen her ein theologisches Argument starkgemacht werden kann. Allgemeinplätze im besten Sinn des Wortes: allgemein anerkannte Orte, auf die sich möglichst viele Menschen beziehen können.
Die Pastoralkonstitution benennt einen ganzen Plural solcher Orte: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ (GS 1). Aber nicht nur die Eröffnungsfanfare von Gaudium et spes ist von der theologischen Bedeutung dieser Zeichen geprägt, sondern auch die Anfänge der anderen Hauptteile der Pastoralkonstitution. Die in diesem Kontext meistens zitierte Stelle am Beginn der Expositio introductiva folgt dem aus der wallonischen Arbeiterpastoral stammenden theologischen Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln: „Es ist die Pflicht der Kirche, die Zeichen der Zeit zu unterscheiden [Sehen, Ch. B.] und sie im Licht des Evangeliums zu deuten [Urteilen, Ch. B.], so dass sie […] auf die Fragen der Menschen nach dem Sinn […] des Lebens […] antworten kann [Handeln, Ch. B.]“ (GS 4). Eine diskursive Einbahnstraße: Die Menschen fragen und die Kirche antwortet. Anders eine konzilstheologisch gewichtigere Stelle zu Beginn der Prima pars , wo die Zeitsignatur einen Offenbarungsort bildet, den es von allen Beteiligten in gemeinsamer Suche zu entdecken gilt:
„Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis [und nicht nur: die Kirche, Ch. B.] erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, an denen es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit Anteil hat, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Präsenz […] Gottes sind.“ (GS 11).
Diese fortschreitende Präzisierung 99des theologischen Arguments setzt sich im Beginn der Secunda pars fort:
„Nachdem das Konzil dargelegt hat, von welcher Würde die Person des Menschen und zu welcher Aufgabe sie […] gerufen ist, wendet es nun die Herzen aller im Licht des Evangeliums und der menschlichen Erfahrungen [und nicht nur wie in GS 4: des Evangeliums, Ch. B.] einigen bedrängenderen Notwendigkeiten zu, die das Menschengeschlecht in höchstem Maße betreffen.“ 100(GS 46).
Hier wird GS 4 auf der argumentativen Höhe von GS 11 weitergeführt. Es gilt die mathematisch unsinnige, theologisch aber höchst bedeutsame Formel: GS 4 × GS 11 = GS 46.
Entscheidend ist die Signifikanz des jeweiligen Problems. Es gibt einen Komparativ von bedrängenderen und weniger bedrängenden Problemen: In der Pastoral des Konzils ist eine kapitale Weltfinanzkrise wichtiger als der sprichwörtliche Bierpreis des Pfarrfestes. Was beim Konzil urgentiores necessitates heißt, nennt Foucault danger principal :
„Ich möchte eine Genealogie der Probleme […] betreiben. Ich bemühe mich, nicht zu sagen, dass alles schlecht sei, sondern dass alles gefährlich ist – was nicht dasselbe ist wie schlecht. Wenn alles gefährlich ist, dann haben wir immer etwas zu tun. […] Ich denke, dass die […] Wahl, die wir jeden Tag treffen müssen, darin besteht zu bestimmen, was gerade die Hauptgefahr ist.“ 101
Entsprechende Zeichen der Zeit sind dem französischen Konzilstheologen M.-Dominique Chenu zufolge im Positiven wie im Negativen faits révélateurs – offenbarungsträchtige Tatbestände, deren theologische Betrachtung das Kontinuum unseres Alltags orientierend unterbricht:
„Die Eroberung der Bastille […] war ein winziges Ereignis unter vielen anderen. Aber dieses Ereignis […] wurde signifikant, da es einer ganzen revolutionären Welle als Symbol diente, die ein Jahrhundert lang rund um die Welt rollte. […] Es geht […] darum, in diesem Ereignis jene verborgene Macht zu erkennen, die aus ihm jenen […] Katalysator macht, der von nun an […] den Lauf der Zeiten bestimmt. Es kommt daher weniger auf den […] Inhalt des Ereignisses an als auf die kollektive Bewusstwerdung, die es in Gang setzt. […] Zeichen der Zeit sind […] allgemeine Phänomene, welche […] die Sehnsüchte der gegenwärtigen Menschheit zum Ausdruck bringen. Diese allgemeinen Phänomene sind […] wirkliche Zeichen nur durch jene Überschreitung, die sie – nicht ohne Brüche – in die Kontinuität menschlicher Zeitvorstellungen hineintragen.“ 102
Читать дальше