Wenn nun Balthasar weiter sagt: „Wissen ist das, wofür der Mensch die Kriterien der Verifizierung bei sich selbst, in seiner Vernunft besitzt. … Das Unternehmen, das den Radius des Ausgriffs dieser Vernunft erforschend absteckt, hat seit Platon den Namen Philosophie erhalten“ 22, dann ist in diesem Sinne Gotteserkenntnis Gegenstand der Philosophie. Ihr kommt insofern inchoativer Charakter zu, womit nun aber keineswegs „die geheime Forderungen enthaltende, drängende platonische Sehnsucht nach der Gnade und der Gottesschau“ 23gemeint ist, sondern vielmehr eine Dienstbarkeit und Verfügbarkeit für göttliche Offenbarung 24im Sinne des bereits erwähnten leeren Rahmens. Die Überschneidung des jeweiligen Materialobjekts von Theologie und Philosophie ist damit evident.
Es wäre nun aber ein Kurzschluss, wollte man alle Aussagen über Gott, die der Mensch qua reiner Vernunft mit Blick auf seine eigene natürliche Verfasstheit erschließen kann, dem Zuständigkeitsbereich der Philosophie, alle darüber hinausgehenden Erkenntnisse, die sich aus der Offenbarung Gottes ergeben, dagegen der Theologie zuordnen. Folgt man Balthasar, so geht die Verflechtung von Theologie und Philosophie wesentlich tiefer. Er ist der Überzeugung, „daß der Mensch zur ‚Anschauung‘, zum ‚Besitzen‘ Gottes geschaffen ist, daß er somit kein anderes Endziel hat als ein übernatürliches“. 25Das aber bedeutet, schon vor jeder gnadenhaften Offenbarung ist der konkret existierende Mensch auf eine übernatürliche Bestimmung hin ausgerichtet. „Natur ist als Ganze innerlich auf Übernatur finalisiert, ob sie will oder nicht, weiß oder nicht.“ 26In der Welt, wie sie konkret existiert, gibt es demnach keine ‚reine Natur‘. „Gottes tatsächliche Weltordnung ist die faktische Einheit von zwei sachlich unterscheidbaren und auch in ihrer faktischen Einigung unter schiedenen, aber nicht ge schiedenen, nicht trennbaren Ordnungen“, 27einerseits nämlich der Schöpfungsordnung und anderseits der Gnadenordnung. 28Dabei aber ist die der Natur gleichsam innewohnende Gnade unbedingt zu unterscheiden von der Gnade der freien Selbstoffenbarung Gottes. Balthasar betont ausdrücklich die Notwendigkeit der analytischen Unterscheidung von Natur und Gnade und damit eines elaborierten theologischen Naturbegriffs, zum einen „zur Kenntlichmachung des Geschöpfes in seinem von Gott unterschiedenen Sein, seiner Gott ‚gegenüber‘-stehenden, eigenen Subjekthaftigkeit“, 29und zum anderen zur Unterscheidung der Ungeschuldetheit der Gnade 30von der allgemeinen Ungeschuldetheit der Schöpfung. „Vom Standpunkt einer kreatürlichen Theologie [von unten nach oben] bleibt der formale Begriff der natura pura notwendig, vom Standpunkt Gottes aus [von oben nach unten] gewinnt er keine Bedeutung mehr. Doch da der Mensch keine rein göttliche Theologie treiben kann, bleibt für Balthasar … die Hypothese der natura pura … legitim“. 31
Die Herleitung eines Begriffs der reinen Natur obliegt dabei nach Balthasar ausschließlich der Theologie, insofern er nur durch Abstraktion von der gnadenhaften Ausrichtung der faktischen Natur zu gewinnen ist. ‚Reine Natur‘ ist gleichsam der Rest, der übrig bleibt, wenn von der gnadenhaften Erhöhung der faktischen Natur abgesehen wird, „das, woran schließlich Gottes Offenbarung ergeht“, 32„das Geschöpf als solches“. 33Die Bestimmung des Naturbegriffs setzt demnach ein Verständnis von Gnade voraus, zu dem die menschliche Vernunft aber von sich aus nicht zu gelangen vermag. 34„Die positive Definition der Gnade kann nur durch die Gnade selber gegeben werden: was Gott innerlich ist, das muß er selbst offenbaren. Die Kreatur kann sich diesem ihr Unbekannten gegenüber nicht selbst abgrenzen und darum auch nicht wissen, worin sie sich [als theologisch verstandene bloße ‚Natur‘] von ihm unterscheidet.“ 35Der Gnadenbegriff kann also nur aus theologischer Reflexion auf ergangene Offenbarung erwachsen. Das aber bedeutet, so Balthasars Schlussfolgerung, dass auch der ‚Rest‘ ausschließlich theologisch in den Blick kommt. „ Indem Offenbarung ergeht, hebt sich Natur von ihr als der Vorraum ab“ 36. Damit soll nun nicht gesagt sein, dass der Begriff der Natur aus dem Begriff der Gnade ableitbar wäre. Vielmehr ist Schöpfung die logische Voraussetzung für das Ergehen von Gnade; Gnade ergeht an Schöpfung. In diesem Sinne ist „die Priorität der Natur vor der Gnade … die notwendige Bedingung der Möglichkeit für die Priorität der Gnade vor der Natur.“ 37
Das Problem ist jedoch, dass nach Balthasar der Raum der der Gnade logisch vorausgesetzten ‚reinen Natur‘ inhaltlich nicht zu füllen ist, eben weil er nur einen Hilfsbegriff zu Bezeichnung eines in der konkreten Welt nicht existierenden Abstraktums darstellt. Deshalb ist etwa die Frage, inwieweit das Hingeordnetsein des Menschen auf Gott (im augustinisch-thomanischen Sinn des desiderium naturale ) zu seiner ‚reinen Natur‘ oder aber zu seiner je schon gnadenhaft erhöhten faktischen Natur gehört, letztlich nicht zu beantworten. „Wir stehen hier offenbar an einer Grenze menschlichen Denkens, (…) wo es wirklich zu einer Ermessenfrage wird, wieviel von dem ‚Vermögen zu Gott‘ in der einen konkreten menschlichen Natur man der ‚Natur‘, wieviel der ‚Gnade‘ zuschreiben will.“ 38Der Hinweis auf diesen Ermessensspielraum mag auch ein möglicher Erklärungsansatz (sicherlich nicht der einzige, weil „die Kontroverse von Motiven unterschiedlicher Natur bestimmt ist“ 39) für die „Sprunghaftigkeit der Balthasarschen Beurteilungen“ 40der Theologie Karl Rahners , insbesondere seines Konzepts eines ‚übernatürliches Existentials‘ sein. An dieser Stelle kann und soll die Auseinandersetzung zwischen Balthasar und Rahner nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. 41Es sei aber darauf hingewiesen, dass Balthasar den Begriff des ‚übernatürlichen Existentials‘ durchaus positiv aufgreifen kann, solange er im Sinne einer gnadenhaften, über die natürliche Hinordnung des Menschen auf Gott hinausgehenden Einladung verstanden wird. 42Ein solches Angerufensein begreift er mit Rahner als „ein ‚ontologisches Konstitutiv seines (des Menschen; S. H.) konkreten Wesens‘, aber doch nicht zu seiner Natur gehörig [Rahner].“ 43Übernatürliches Existential trifft demnach die Natur des Menschen zwar in ihrem Innersten, ist aber selbst nicht „naturhaft-konstitutive Bestimmung.“ 44Diese Bedeutungszuschreibung sieht Balthasar aber bei Rahner nicht immer eingehalten. Harsche Kritik übt er dann, wenn die Hinordnung auf Gott als aktive menschliche Potenz erscheint. 45Von der baltharsarschen Logik her gedacht, erscheint die Uneindeutigkeit des Begriffs jedoch unvermeidlich. Rahner theologisiert, anders als Balthasar, nicht von oben. Vielmehr „baut er der Theologie eine ‚theologische‘ Anthropologie als rein philosophische Disziplin vor, die als solche ‚die Bedingung der Möglichkeit von Theologie ist‘“. 46Innerhalb dieser Anthropologie begreift nun Rahner die Hinordnung des Geschöpfes auf Gott als „Ontologie der potentia oboedientalis für Offenbarung“ 47. Um von dort aus nun zu einem theologischen Begriff zu gelangen, so Balthasars Argument weiter, muss die Perspektive gewechselt werden. Statt von ‚unten‘ i. e. vom Geschöpf her, zum Absoluten aufzublicken, muss der Blick nun von ‚oben‘, von der Offenbarung her auf das Geschöpf fallen. „Was wir jetzt als seine ‚Natur‘ entdecken, deckt sich nur analog mit dem, was Philosophie als solche betrachtet.“ 48Entsprechend ist auch nur eine analoge Bestimmung dessen, was unter einer natürlichen Hinordnung auf Gott zu verstehen ist, möglich. Der philosophische Begriff der potentia oboedentialis ist nicht deckungsgleich mit dem theologischen. 49Das genau scheint mir nun das Problem zu sein: Der Begriff ‚übernatürliches Existential‘ changiert zwischen philosophischer und theologischer Bedeutungsebene. „In der Entwicklung Rahners verschieben sich die Akzente immer wieder, und die bei ihm verwendeten Begriffe machen einen Bedeutungswandel durch.“ 50Je nachdem, welche Blickrichtung Rahner in einem Kontext stärker betont, respektive Balthasar stärker fokussiert, bewegt sich das Konzept noch innerhalb des balthasarschen Ermessensspielraumes, oder aber es sprengt ihn eindeutig.
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