1 ...7 8 9 11 12 13 ...44 Mit dieser Diagnose schließt Balthasar sich dem „Siewerthschen Theorem einer nachthomanischen Seinsvergessenheit der abendländischen Philosophiegeschichte … uneingeschränkt an.“ 74Nach Siewerth ist das Seiende „einerseits die höchste und letzte eingefaltete Einheit, das Einfachste das in der Wirklichkeit der Welt angetroffen wird, wie es andererseits ein unauflösbar Allgemeines ist, das alle Merkmale und Bezüge sowohl in ihrer Verschiedenheit wie in ihrem Übereinkommen auf sich hin [eingefaltet] zusammen- oder inne-hält und seinshaft durchwaltet. Es umgreift daher mit den versammelnden, einigenden Bezügen auch alle Weisen von Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit, die an einer Sache hervortreten.“ 75Diese Komplexität und dieses Mehrschichtigsein des Seienden macht ein Denken erforderlich, das die unterschiedlichen Dimensionen zunächst einmal als solche (an-)erkennt und aufnimmt, das sie darüber hinaus aber auch auf ihren Konstitutionsgrund, i. e. das Sein, hin ordnend zueinander in Beziehung setzt und dergestalt zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt. Ein solches Denken bezeichnet Siewerth, dem Wortsinn des griechischen Verbs ἀναλέγ∈ιν folgend, als analoges Denken. Einzig ein solcher Akt der „durchmessende(n) ‚Über-legung‘“ 76wird seiner Ansicht nach dem Sein des Seienden gerecht. Im modernen Denken dagegen beobachtet er ein Streben nach Einsinnigkeit. „In diesem Sinne lösen die modernen Wissenschaften die ‚analogen‘, ganzheitlichen Synthesen der Atome, der Moleküle oder Zellen in die gleichen Zuordnungsfaktoren und in gleiche Verhältnisse auf und scheiden alles, was sich diesem Ordnungs- und Maßsystem nicht einordnen läßt, aus der Betrachtung aus.“ 77Das Sein als letzter Maßgrund alles Seienden ist dabei obsolet und gerät ergo zunehmend in Vergessenheit.
Dieser Vorwurf richtet sich gegen die beiden von Balthasar ausgemachten Wege neuzeitlich philosophischen Denkens gleichermaßen. Auf der einen Seite beobachtet er ein rationalistisches Bestreben, „das Sein zum umfassendsten Vernunftbegriff zu formalisieren … und damit der Vernunft ausdrücklich oder einschlußweise Übersicht und Verfügung über das Sein einzuräumen. Das Sein wird damit zur obersten und leersten Kategorie“. 78Diese Ablösung des Seinsbegriffs von der Wirklichkeit des konkreten Seienden muss die Seinsfrage unweigerlich zum Verstummen bringen, weil sich an einem abstrakten Begriff kein wunderndes und staunendes Fragen entzünden kann. Ohne diesen Brückenschlag auf das Absolute hin bleibt der Mensch dem Endlichen ohne jede Möglichkeit des Selbstüberstiegs verhaftet. Er ist gleichsam in seinem eigenen Denken gefangen. Folgt man Balthasar, so wird man sagen müssen, dass Selbiges in der Konsequenz auch für das Sprechen von Gott gilt. Weil der Seinsbegriff als abstrakte Denkkategorie völlig unbestimmt ist, kann er „einsinnig [univoce] auf unendliches wie endliches Sein, d. h. auf Gott und die Welt angewendet werden“. 79Das unendliche Sein Gottes wird so zu einer Kategorie menschlichen Denkens verweltlicht, und dadurch dem Menschen scheinbar verfügbar. Er meint, über Existenz wie Wesen Gottes Bescheid zu wissen. 80
Auf der anderen Seite steht der von Balthasar so genannte „pantheistische Idealismus“ 81hegelscher Ausprägung, der das Sein „so in sich verfestigt, daß es mit Gott zusammenfällt und nun im göttlichen Weltprozeß seine Wesenheiten aus sich selber erzeugt“. 82Ein Sein aber, das sich notwendig auszeugen muss, um dergestalt erst zu sich selber zu kommen, ist nicht anders als ein Endliches (im Sinne des Begrenztseins durch die Notwendigkeit zu werden, was es noch nicht ist) und deshalb letztlich auch als Figur menschlichen Denkens zu verstehen. In beiden Wegen neuzeitlicher Philosophie erkennt Balthasar daher „Formen der Logisierung und Essentialisierung des Seins“ 83, durch die das Sein zu einem Begriff des menschlichen Intellekts verkehrt und verfälscht wurde und wird. 84
An dieser Stelle gilt es nun ganz genau hinzuschauen, um Balthasars Anliegen nicht misszuverstehen. Es geht ihm nicht um eine pauschale, undifferenzierte Ablehnung der sogenannten ‚anthropologischen Wende‘, die neuzeitliche „Umzentrierung des Kosmos auf den Menschen“ 85, durch die der „Mikrokosmos Mensch zu Mitte und Maß der Natur aufrückt“. 86Ganz im Gegenteil: Mit dieser Entwicklung, so seine grundsätzlich positive Wertung, nimmt der Mensch seine schöpfungsgemäße Bestimmung als Herrscher der Schöpfung erst wahrhaft an. 87Entsprechend erkennt von Balthasar in den immer beherrschender gewordenen wissenschaftlichen Strategien der Weltbewältigung, mit deren Einsatz der Mensch „immer weniger Dinge dem bloßen Naturverlauf überläßt, immer mehr Lebensverhältnisse [bis hinein in die verborgensten und intimsten des Menschen selbst] dem Zugriff der forschenden und damit auch praktisch-planenden Ratio unterwirft“ 88, zunächst einmal ein dem Wesen des Menschen durchaus entsprechendes Bemühen. „Wissenschaft läßt sich nur vom Menschen her definieren; sie ist das Tun des homo sapiens, der auf Grund dieses Tuns auch zum homo faber wird, weil er das Leben und die Dinge so meistert, wie sein verstehender Geist die Welt innerlich theoretisch im voraus gemeistert hat.“ 89Das Bestreben, die Welt zu verstehen, um sie gestaltend zu durchwirken, ist demnach so alt wie der Mensch selbst. Was sich dabei im Laufe der Menschheitsgeschichte allerdings gewandelt hat, ist das Verhältnis des Menschen zur Natur, 90wobei Balthasar davon ausgeht, dass „das Gesetz des ‚Wandels als Fortschritt‘ die Ausfaltung der Idee des Menschen in der Welt zum Inhalt hat“. 91
Wenn nun aber wissenschaftliches Arbeiten dergestalt Maß und Form vom menschlichen Wesen her erhält, so muss „jedes wissenschaftliche Urteil … um das Gewicht zu haben, das der Würde wissenschaftlichen Verhaltens überhaupt zukommt, angesichts der Gesamtidee des Menschen gefällt werden“. 92Dieser aber, so haben wir eingangs gesehen, ist nicht nur Welt bewältigender Geist, sondern gerade darin gleichzeitig immer auch wesentlich eine auf die ihm unverfügbare Gabe des Seins hin offene Frage und in diesem Sinne immer schon ein religiöses Wesen. Nur dort also, wo sich der Mensch in der Begegnung und Auseinandersetzung mit weltlich Seiendem zugleich dem Wunder des Seins öffnet und sich darin auf das absolute Sein hin übersteigt, wird er den Dingen wie auch seinem eigenen Wesen gerecht.
Diese Perspektive ist in naturwissenschaftlich-technischem Denken nun aber systematisch ausgeblendet, „denn jede Einzelwissenschaft setzt das Dasein ihres Gegenstandes voraus und muß die Frage, warum überhaupt etwas ist, ausklammern.“ 93Die Logik der sogenannten exakten Wissenschaften verfolgt mit Ausschließlichkeit das Ziel, vorliegende Fakten auf ihre Gesetzmäßigkeiten hin zu befragen, um sich ihrer auf diese Weise zu bemächtigen und so in immer stärkerem Maße Herrschaft über die Natur zu gewinnen. Ergo bedarf es immer wieder der Vermittlung dieser wissenschaftlichen, das Seiende bewältigenden, mit der religiösen, sich auf die Gabe des Seins angewiesen sein lassenden 94Dimension menschlichen Seins, damit der Mensch nicht der Gefahr erliegt, sich selbst zum letzten Bezugspunkt und Maß aller Dinge zu machen. Nur so ist nach Balthasar den Dingen wie dem Menschen gerecht werdendes Verstehen überhaupt möglich. „Realität der Welt, welcher Ordnung sie auch angehören mag, … kommt nicht anders zur Geltung als innerhalb einer Seins- und damit auch einer S i n n-vorgabe der Vernunft … Deshalb hat eine eigene Wissenschaft über diese Vorgabe zu wachen, sie zu prüfen und zu rechtfertigen: die Philosophie.“ 95Wenn von Balthasar ‚der Philosophie‘ diese Aufgabe zuspricht, so steht dabei, daran sei noch einmal erinnert, sein Konzept der Integration von Philosophie und Theologie immer schon im Hintergrund: „Indem Philosophie die Voraussetzungen für die sinnstiftende und sinnspendende Funktion der Vernunft in deren Offensein für die Allheit des Sein entdeckt, mit dieser Allheit aber notwendig der Gedanke des absoluten und göttlichen Seins auftaucht, grenzt Philosophie notwendig an Religion, wenn sie nicht gar, in ihrer eigenen Tiefe, ineinsgesetzt wird mit der gedanklichen Seite der Religion oder, was dann auf das Gleiche herauskommt, mit der ‚natürlichen Theologie‘.“ 96
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